Melodie, mein ganzes Wesen aufgelöst in unaus- sprechliches Gefühl süsser, stiller, überschweng- licher Ruhe und Seligkeit. Alle Segnungen des Himmels und der Erde flutheten sanft in mir, aus mir, in mich zurück. Aber nun, so endete er, nun ists vorbey; nun bin ich der Schatten eines Traumes, verlohren in der Unendlichkeit, su- che mich, und finde mich nirgends. O! über den Wahn des Daseyns. Thränen schlichen jetzt von seinen Augen und schlossen diese rührende Scene *).
Die Phänomene der umgetauschten Persön- lichkeit sind so merkwürdig, und alle Versuche, sie psychologisch zu erklären, so unfruchtbar, dass ich mich nicht entbrechen kann, noch ein interessantes Factum dieses Zustandes zu erzäh- len. Ein junges und gefühlvolles Mädchen in Stuttgard, sagt Gmelin**), war von ihrem Geliebten durch Land und Meere getrennt. Sie litt also, und war für analoge Eindrücke des Trübsinns höchst empfänglich. Um die nemliche Zeit brach die französische Revolution aus. Sie las nichts als grausende Scenen, die durch Feuer und Schwerdt, Zwietracht und Bürgerkrieg im Innern Frankreichs entstanden, hörte von zahl-
*)Mauchart's allgemeines Repertorium für empirische Psychologie. 5. B. S. 54.
**) Materialien für die Anthropologie, Tübingen 1791, 1ster Band, S. 3.
Melodie, mein ganzes Weſen aufgelöſt in unaus- ſprechliches Gefühl ſüſser, ſtiller, überſchweng- licher Ruhe und Seligkeit. Alle Segnungen des Himmels und der Erde flutheten ſanft in mir, aus mir, in mich zurück. Aber nun, ſo endete er, nun iſts vorbey; nun bin ich der Schatten eines Traumes, verlohren in der Unendlichkeit, ſu- che mich, und finde mich nirgends. O! über den Wahn des Daſeyns. Thränen ſchlichen jetzt von ſeinen Augen und ſchloſſen dieſe rührende Scene *).
Die Phänomene der umgetauſchten Perſön- lichkeit ſind ſo merkwürdig, und alle Verſuche, ſie pſychologiſch zu erklären, ſo unfruchtbar, daſs ich mich nicht entbrechen kann, noch ein intereſſantes Factum dieſes Zuſtandes zu erzäh- len. Ein junges und gefühlvolles Mädchen in Stuttgard, ſagt Gmelin**), war von ihrem Geliebten durch Land und Meere getrennt. Sie litt alſo, und war für analoge Eindrücke des Trübſinns höchſt empfänglich. Um die nemliche Zeit brach die franzöſiſche Revolution aus. Sie las nichts als grauſende Scenen, die durch Feuer und Schwerdt, Zwietracht und Bürgerkrieg im Innern Frankreichs entſtanden, hörte von zahl-
*)Mauchart’s allgemeines Repertorium für empiriſche Pſychologie. 5. B. S. 54.
**) Materialien für die Anthropologie, Tübingen 1791, 1ſter Band, S. 3.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0079"n="74"/>
Melodie, mein ganzes Weſen aufgelöſt in unaus-<lb/>ſprechliches Gefühl ſüſser, ſtiller, überſchweng-<lb/>
licher Ruhe und Seligkeit. Alle Segnungen des<lb/>
Himmels und der Erde flutheten ſanft in mir, aus<lb/>
mir, in mich zurück. Aber nun, ſo endete er,<lb/>
nun iſts vorbey; nun bin ich der Schatten eines<lb/>
Traumes, verlohren in der Unendlichkeit, <hirendition="#g">ſu-<lb/>
che mich, und finde mich nirgends</hi>.<lb/>
O! über den Wahn des Daſeyns. Thränen<lb/>ſchlichen jetzt von ſeinen Augen und ſchloſſen<lb/>
dieſe rührende Scene <noteplace="foot"n="*)"><hirendition="#g">Mauchart’s</hi> allgemeines Repertorium für<lb/>
empiriſche Pſychologie. 5. B. S. 54.</note>.</p><lb/><p>Die Phänomene der umgetauſchten Perſön-<lb/>
lichkeit ſind ſo merkwürdig, und alle Verſuche,<lb/>ſie pſychologiſch zu erklären, ſo unfruchtbar,<lb/>
daſs ich mich nicht entbrechen kann, noch ein<lb/>
intereſſantes Factum dieſes Zuſtandes zu erzäh-<lb/>
len. Ein junges und gefühlvolles Mädchen in<lb/>
Stuttgard, ſagt <hirendition="#g">Gmelin</hi><noteplace="foot"n="**)">Materialien für die Anthropologie, Tübingen<lb/>
1791, 1ſter Band, S. 3.</note>, war von ihrem<lb/>
Geliebten durch Land und Meere getrennt. Sie<lb/>
litt alſo, und war für analoge Eindrücke des<lb/>
Trübſinns höchſt empfänglich. Um die nemliche<lb/>
Zeit brach die franzöſiſche Revolution aus. Sie<lb/>
las nichts als grauſende Scenen, die durch Feuer<lb/>
und Schwerdt, Zwietracht und Bürgerkrieg im<lb/>
Innern Frankreichs entſtanden, hörte von zahl-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[74/0079]
Melodie, mein ganzes Weſen aufgelöſt in unaus-
ſprechliches Gefühl ſüſser, ſtiller, überſchweng-
licher Ruhe und Seligkeit. Alle Segnungen des
Himmels und der Erde flutheten ſanft in mir, aus
mir, in mich zurück. Aber nun, ſo endete er,
nun iſts vorbey; nun bin ich der Schatten eines
Traumes, verlohren in der Unendlichkeit, ſu-
che mich, und finde mich nirgends.
O! über den Wahn des Daſeyns. Thränen
ſchlichen jetzt von ſeinen Augen und ſchloſſen
dieſe rührende Scene *).
Die Phänomene der umgetauſchten Perſön-
lichkeit ſind ſo merkwürdig, und alle Verſuche,
ſie pſychologiſch zu erklären, ſo unfruchtbar,
daſs ich mich nicht entbrechen kann, noch ein
intereſſantes Factum dieſes Zuſtandes zu erzäh-
len. Ein junges und gefühlvolles Mädchen in
Stuttgard, ſagt Gmelin **), war von ihrem
Geliebten durch Land und Meere getrennt. Sie
litt alſo, und war für analoge Eindrücke des
Trübſinns höchſt empfänglich. Um die nemliche
Zeit brach die franzöſiſche Revolution aus. Sie
las nichts als grauſende Scenen, die durch Feuer
und Schwerdt, Zwietracht und Bürgerkrieg im
Innern Frankreichs entſtanden, hörte von zahl-
*) Mauchart’s allgemeines Repertorium für
empiriſche Pſychologie. 5. B. S. 54.
**) Materialien für die Anthropologie, Tübingen
1791, 1ſter Band, S. 3.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/79>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.