immer dieselbe Person bleiben, da uns doch von der Erfahrung die handgreiflichsten Beweise des Gegentheils aufgedrungen werden. In dem Räum- lichen der Organisation ist die nemliche Aufgabe gegeben. Wir glauben von unserer Geburt an bis zu unserem natürlichen Lebensziel immer in dem nemlichen Körper zu bleiben. So wie unsere Person uns selbst nicht unbekannt wird, so wird auch unser Körper keinem in der Familie unbe- kannt. Und doch hat das Kind in den Windeln mit dem Jüngling, und dieser mit dem Greise kei- ne Aehnlichkeit mehr. Der Anflug geschah aber immer an den nemlichen Stock und die Vegetation schritt in so unmerklichen Graden zur Entwickelung und Zerstörung fort, dass wir den ganzen Prozess nicht gewahr geworden sind. Wahrscheinlich würde daher auch das Be- wusstseyn der Succession unserer Existenz einen Stoss erleiden, wenn die Catastrophen stark seyn, Knaben mit einem Schritt ins Greisenalter hin- überhüpfen könnten. Der Organismus wechselt den Stoff, transitorisch und fortschrei- tend, er zerstört ununterbrochen und schafft wieder, was er zerstört hat. Er nähert seine neuen Schöpfungen dem ursprünglichen Typus soweit wieder an, dass das Individuum fortdauert und immerhin zu den nemlichen Veränderungen fähig bleibt. Allein er nähert sie nur dem an, was er zerstört hat; erreicht dasselbe aber nicht vollkommen wieder. Daher der
immer dieſelbe Perſon bleiben, da uns doch von der Erfahrung die handgreiflichſten Beweiſe des Gegentheils aufgedrungen werden. In dem Räum- lichen der Organiſation iſt die nemliche Aufgabe gegeben. Wir glauben von unſerer Geburt an bis zu unſerem natürlichen Lebensziel immer in dem nemlichen Körper zu bleiben. So wie unſere Perſon uns ſelbſt nicht unbekannt wird, ſo wird auch unſer Körper keinem in der Familie unbe- kannt. Und doch hat das Kind in den Windeln mit dem Jüngling, und dieſer mit dem Greiſe kei- ne Aehnlichkeit mehr. Der Anflug geſchah aber immer an den nemlichen Stock und die Vegetation ſchritt in ſo unmerklichen Graden zur Entwickelung und Zerſtörung fort, daſs wir den ganzen Prozeſs nicht gewahr geworden ſind. Wahrſcheinlich würde daher auch das Be- wuſstſeyn der Succeſſion unſerer Exiſtenz einen Stoſs erleiden, wenn die Cataſtrophen ſtark ſeyn, Knaben mit einem Schritt ins Greiſenalter hin- überhüpfen könnten. Der Organismus wechſelt den Stoff, tranſitoriſch und fortſchrei- tend, er zerſtört ununterbrochen und ſchafft wieder, was er zerſtört hat. Er nähert ſeine neuen Schöpfungen dem urſprünglichen Typus ſoweit wieder an, daſs das Individuum fortdauert und immerhin zu den nemlichen Veränderungen fähig bleibt. Allein er nähert ſie nur dem an, was er zerſtört hat; erreicht daſſelbe aber nicht vollkommen wieder. Daher der
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immer dieſelbe Perſon bleiben, da uns doch von
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Gegentheils aufgedrungen werden. In dem Räum-
lichen der Organiſation iſt die nemliche Aufgabe
gegeben. Wir glauben von unſerer Geburt an bis
zu unſerem natürlichen Lebensziel immer in dem
nemlichen Körper zu bleiben. So wie unſere
Perſon uns ſelbſt nicht unbekannt wird, ſo wird
auch unſer Körper keinem in der Familie unbe-
kannt. Und doch hat das Kind in den Windeln
mit dem Jüngling, und dieſer mit dem Greiſe kei-
ne Aehnlichkeit mehr. Der Anflug geſchah
aber immer an den nemlichen Stock und die
Vegetation ſchritt in ſo unmerklichen Graden
zur Entwickelung und Zerſtörung fort, daſs
wir den ganzen Prozeſs nicht gewahr geworden
ſind. Wahrſcheinlich würde daher auch das Be-
wuſstſeyn der Succeſſion unſerer Exiſtenz einen
Stoſs erleiden, wenn die Cataſtrophen ſtark ſeyn,
Knaben mit einem Schritt ins Greiſenalter hin-
überhüpfen könnten. Der Organismus wechſelt
den Stoff, tranſitoriſch und fortſchrei-
tend, er zerſtört ununterbrochen und ſchafft
wieder, was er zerſtört hat. Er nähert ſeine
neuen Schöpfungen dem urſprünglichen Typus
ſoweit wieder an, daſs das Individuum fortdauert
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fähig bleibt. Allein er nähert ſie nur dem an,
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/65>, abgerufen am 27.11.2024.
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