sind. Die Kreise von Begebenheiten, die uns umla- gern, mehren und erweitern sich mit der Fortdauer unseres Lebens, wie die Kreise auf einer See, die von einem Steine erschüttert ist. Und diesen individuellen Abschnitt, dessen wir uns, als mit uns verknüpft, bewusst sind, scheiden wir von der unendlichen Totalfolge der Dinge, als uns angehörig, ab. Ohne dies Bewusstseyn des Zusammenhangs unserer Existenz würden wir unbedeutende Ephemeren des gegenwärtigen Augenblicks und gleichsam in so viele Personen zersplittert seyn, als wir Grade an dem grossen Rade der Zeit durchlaufen sind. Dennoch ist dies Ich, das in unserem Bewusstseyn mit so vie- ler Beharrlichkeit fortdauert, in der Wirklich- keit ein höchst veränderliches Ding. Der Greis glaubt, er sey es noch, der vor achtzig Jahren auch war. Doch ist er nicht mehr derselbe. Kein Atom ist von dem allen mehr da, was vor acht- zig Jahren war. Die Zeit hat, mit jedem Schritte vorwärts, an seiner Seele und an seinem Körper genagt, ihn mehr als einmal ganz umgeschaffen, moralische und physische Vollkommenheiten in ihm entwickelt und sie wieder zerstört. Er sieht auf die durchlaufene Bahn wie auf eine zusam- menhängende Linie zurück, obgleich der Schlaf und längere Epochen von kranker Bewusstlosig- keit überall grosse Lücken in seinen Lebensfa- den eingeschnitten haben. In der That eine selt- same Erscheinung, dieser feste Glaube, dass wir
ſind. Die Kreiſe von Begebenheiten, die uns umla- gern, mehren und erweitern ſich mit der Fortdauer unſeres Lebens, wie die Kreiſe auf einer See, die von einem Steine erſchüttert iſt. Und dieſen individuellen Abſchnitt, deſſen wir uns, als mit uns verknüpft, bewuſst ſind, ſcheiden wir von der unendlichen Totalfolge der Dinge, als uns angehörig, ab. Ohne dies Bewuſstſeyn des Zuſammenhangs unſerer Exiſtenz würden wir unbedeutende Ephemeren des gegenwärtigen Augenblicks und gleichſam in ſo viele Perſonen zerſplittert ſeyn, als wir Grade an dem groſsen Rade der Zeit durchlaufen ſind. Dennoch iſt dies Ich, das in unſerem Bewuſstſeyn mit ſo vie- ler Beharrlichkeit fortdauert, in der Wirklich- keit ein höchſt veränderliches Ding. Der Greis glaubt, er ſey es noch, der vor achtzig Jahren auch war. Doch iſt er nicht mehr derſelbe. Kein Atom iſt von dem allen mehr da, was vor acht- zig Jahren war. Die Zeit hat, mit jedem Schritte vorwärts, an ſeiner Seele und an ſeinem Körper genagt, ihn mehr als einmal ganz umgeſchaffen, moraliſche und phyſiſche Vollkommenheiten in ihm entwickelt und ſie wieder zerſtört. Er ſieht auf die durchlaufene Bahn wie auf eine zuſam- menhängende Linie zurück, obgleich der Schlaf und längere Epochen von kranker Bewuſstloſig- keit überall groſse Lücken in ſeinen Lebensfa- den eingeſchnitten haben. In der That eine ſelt- ſame Erſcheinung, dieſer feſte Glaube, daſs wir
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ſind. Die Kreiſe von Begebenheiten, die uns umla-
gern, mehren und erweitern ſich mit der Fortdauer
unſeres Lebens, wie die Kreiſe auf einer See,
die von einem Steine erſchüttert iſt. Und dieſen
individuellen Abſchnitt, deſſen wir uns, als
mit uns verknüpft, bewuſst ſind, ſcheiden wir
von der unendlichen Totalfolge der Dinge, als
uns angehörig, ab. Ohne dies Bewuſstſeyn
des Zuſammenhangs unſerer Exiſtenz würden
wir unbedeutende Ephemeren des gegenwärtigen
Augenblicks und gleichſam in ſo viele Perſonen
zerſplittert ſeyn, als wir Grade an dem groſsen
Rade der Zeit durchlaufen ſind. Dennoch iſt
dies Ich, das in unſerem Bewuſstſeyn mit ſo vie-
ler Beharrlichkeit fortdauert, in der Wirklich-
keit ein höchſt veränderliches Ding. Der Greis
glaubt, er ſey es noch, der vor achtzig Jahren
auch war. Doch iſt er nicht mehr derſelbe. Kein
Atom iſt von dem allen mehr da, was vor acht-
zig Jahren war. Die Zeit hat, mit jedem Schritte
vorwärts, an ſeiner Seele und an ſeinem Körper
genagt, ihn mehr als einmal ganz umgeſchaffen,
moraliſche und phyſiſche Vollkommenheiten in
ihm entwickelt und ſie wieder zerſtört. Er ſieht
auf die durchlaufene Bahn wie auf eine zuſam-
menhängende Linie zurück, obgleich der Schlaf
und längere Epochen von kranker Bewuſstloſig-
keit überall groſse Lücken in ſeinen Lebensfa-
den eingeſchnitten haben. In der That eine ſelt-
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/64>, abgerufen am 27.11.2024.
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