traut jedem Menschen das beste zu, und sieht keine Beleidigungen, wo sie wirklich sind. Dies hängt theils von dem Grade des Blödsinns, theils von dem Charakter des Kranken und den Aussen- verhältnissen ab, in welchen er lebt. So wird z. B. ein Blödsinniger, der es erst geworden ist, und deswegen sich nicht selbst überlassen bleiben darf, überall in diesen Einschränkungen Eingriffe in seine Rechte wähnen, und deswegen an eine Verschwörung der Menschen gegen sich glauben. Hingegen wird ein anderer, der von Natur gut- müthig und in einer humanen Vormundschaft auf- gewachsen ist, nirgends etwas Böses ahnden. Dann hat der Blödsinnige eine Neigung, Selbst- gespräche mit sich zu halten, für sich zu reden, in den Bart zu murmeln, oder gar nur die Lippen mechanisch zu bewegen. Wir gebrauchen die Sprache nicht bloss zum gegenseitigen Austausch unserer Ideen gegen einander, sondern auch dazu, unsere Gedanken an diese Zeichen zu heften, sie dadurch gleichsam festzuhalten, deutlich zu ma- chen und einen vor dem andern auszuheben. Worte, die wir hören, leisten unserem Denkver- mögen diesen Dienst vollkommner, als Worte, die wir bloss in der Einbildungskraft vorstellen. Daher das Bedürfniss des gemeinen Manns, alles laut zu lesen; des Blödsinnigen, die Gegenstände auszusprechen, die er vorzüglich beachten will. Auch bey anderen Arten von Geisteszerrüttungen und besonders bey der Narrheit, die dem Blöd-
sinn
traut jedem Menſchen das beſte zu, und ſieht keine Beleidigungen, wo ſie wirklich ſind. Dies hängt theils von dem Grade des Blödſinns, theils von dem Charakter des Kranken und den Auſsen- verhältniſſen ab, in welchen er lebt. So wird z. B. ein Blödſinniger, der es erſt geworden iſt, und deswegen ſich nicht ſelbſt überlaſſen bleiben darf, überall in dieſen Einſchränkungen Eingriffe in ſeine Rechte wähnen, und deswegen an eine Verſchwörung der Menſchen gegen ſich glauben. Hingegen wird ein anderer, der von Natur gut- müthig und in einer humanen Vormundſchaft auf- gewachſen iſt, nirgends etwas Böſes ahnden. Dann hat der Blödſinnige eine Neigung, Selbſt- geſpräche mit ſich zu halten, für ſich zu reden, in den Bart zu murmeln, oder gar nur die Lippen mechaniſch zu bewegen. Wir gebrauchen die Sprache nicht bloſs zum gegenſeitigen Austauſch unſerer Ideen gegen einander, ſondern auch dazu, unſere Gedanken an dieſe Zeichen zu heften, ſie dadurch gleichſam feſtzuhalten, deutlich zu ma- chen und einen vor dem andern auszuheben. Worte, die wir hören, leiſten unſerem Denkver- mögen dieſen Dienſt vollkommner, als Worte, die wir bloſs in der Einbildungskraft vorſtellen. Daher das Bedürfniſs des gemeinen Manns, alles laut zu leſen; des Blödſinnigen, die Gegenſtände auszuſprechen, die er vorzüglich beachten will. Auch bey anderen Arten von Geiſteszerrüttungen und beſonders bey der Narrheit, die dem Blöd-
ſinn
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0421"n="416"/>
traut jedem Menſchen das beſte zu, und ſieht<lb/>
keine Beleidigungen, wo ſie wirklich ſind. Dies<lb/>
hängt theils von dem Grade des Blödſinns, theils<lb/>
von dem Charakter des Kranken und den Auſsen-<lb/>
verhältniſſen ab, in welchen er lebt. So wird<lb/>
z. B. ein Blödſinniger, der es erſt geworden iſt,<lb/>
und deswegen ſich nicht ſelbſt überlaſſen bleiben<lb/>
darf, überall in dieſen Einſchränkungen Eingriffe<lb/>
in ſeine Rechte wähnen, und deswegen an eine<lb/>
Verſchwörung der Menſchen gegen ſich glauben.<lb/>
Hingegen wird ein anderer, der von Natur gut-<lb/>
müthig und in einer humanen Vormundſchaft auf-<lb/>
gewachſen iſt, nirgends etwas Böſes ahnden.<lb/>
Dann hat der Blödſinnige eine Neigung, Selbſt-<lb/>
geſpräche mit ſich zu halten, für ſich zu reden,<lb/>
in den Bart zu murmeln, oder gar nur die Lippen<lb/>
mechaniſch zu bewegen. Wir gebrauchen die<lb/>
Sprache nicht bloſs zum gegenſeitigen Austauſch<lb/>
unſerer Ideen gegen einander, ſondern auch dazu,<lb/>
unſere Gedanken an dieſe Zeichen zu heften, ſie<lb/>
dadurch gleichſam feſtzuhalten, deutlich zu ma-<lb/>
chen und einen vor dem andern auszuheben.<lb/>
Worte, die wir hören, leiſten unſerem Denkver-<lb/>
mögen dieſen Dienſt vollkommner, als Worte,<lb/>
die wir bloſs in der Einbildungskraft vorſtellen.<lb/>
Daher das Bedürfniſs des gemeinen Manns, alles<lb/>
laut zu leſen; des Blödſinnigen, die Gegenſtände<lb/>
auszuſprechen, die er vorzüglich beachten will.<lb/>
Auch bey anderen Arten von Geiſteszerrüttungen<lb/>
und beſonders bey der Narrheit, die dem Blöd-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ſinn</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[416/0421]
traut jedem Menſchen das beſte zu, und ſieht
keine Beleidigungen, wo ſie wirklich ſind. Dies
hängt theils von dem Grade des Blödſinns, theils
von dem Charakter des Kranken und den Auſsen-
verhältniſſen ab, in welchen er lebt. So wird
z. B. ein Blödſinniger, der es erſt geworden iſt,
und deswegen ſich nicht ſelbſt überlaſſen bleiben
darf, überall in dieſen Einſchränkungen Eingriffe
in ſeine Rechte wähnen, und deswegen an eine
Verſchwörung der Menſchen gegen ſich glauben.
Hingegen wird ein anderer, der von Natur gut-
müthig und in einer humanen Vormundſchaft auf-
gewachſen iſt, nirgends etwas Böſes ahnden.
Dann hat der Blödſinnige eine Neigung, Selbſt-
geſpräche mit ſich zu halten, für ſich zu reden,
in den Bart zu murmeln, oder gar nur die Lippen
mechaniſch zu bewegen. Wir gebrauchen die
Sprache nicht bloſs zum gegenſeitigen Austauſch
unſerer Ideen gegen einander, ſondern auch dazu,
unſere Gedanken an dieſe Zeichen zu heften, ſie
dadurch gleichſam feſtzuhalten, deutlich zu ma-
chen und einen vor dem andern auszuheben.
Worte, die wir hören, leiſten unſerem Denkver-
mögen dieſen Dienſt vollkommner, als Worte,
die wir bloſs in der Einbildungskraft vorſtellen.
Daher das Bedürfniſs des gemeinen Manns, alles
laut zu leſen; des Blödſinnigen, die Gegenſtände
auszuſprechen, die er vorzüglich beachten will.
Auch bey anderen Arten von Geiſteszerrüttungen
und beſonders bey der Narrheit, die dem Blöd-
ſinn
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 416. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/421>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.