gion. Der Mensch lebt zwar für die Gegen- wart, geniesst sie aber mit Zittern, wenn er nicht Sicherheit für die Zukunft hat. Die Religion wird uns zu früh vor der Reife des Verstandes, wenn wir jeden Eindruck festhalten, sie wird uns als Glaubenssache eingeprägt, über die man nicht vernünfteln soll. Ihr stellt man zwey mäch- tige Leidenschaften, Furcht und Hoffnung, zur Seite, und knüpft dieselbe an Gegenstände, die ausser dem Gebiete der Erfahrung liegen. Wie leicht können daher Dogmen der Theologie, fasche Begriffe von der Gewalt des Teufels, von der Prädestination, von der Versöhnung, von der Strafgerechtigkeit Gottes, von der Ewigkeit der Höllenstrafen einen an Körper und Seele schwachen Menschen, der krank, hypochon- drisch, durch Unglücksfälle gebeugt ist, seine düstere Phantasie in stiller Einsamkeit nährt, und seinen Hang zum Wunderbaren durch mystische Schriften befriedigt, zum Wahnsinn führen? Und wie schwer wird dieser Schwärmer zu be- kehren seyn? Jeder Widerspruch empört ihn, jeden Zweifel hält er für Gotteslästerung. Alle Vernunftgründe scheitern an seiner erhitzten Ein- bildungskraft. Man soll daher dem Wahnsinn aus dieser Quelle vorbeugen, da er so schwer zu heilen ist, den Fanatismus bekämpfen, die Re- ligion von Schwärmerey, Mystik und Pietismus reinigen. Dies ist freilich an manchen Orten so gut gelungen, dass sie selbst über das viele Licht,
gion. Der Menſch lebt zwar für die Gegen- wart, genieſst ſie aber mit Zittern, wenn er nicht Sicherheit für die Zukunft hat. Die Religion wird uns zu früh vor der Reife des Verſtandes, wenn wir jeden Eindruck feſthalten, ſie wird uns als Glaubensſache eingeprägt, über die man nicht vernünfteln ſoll. Ihr ſtellt man zwey mäch- tige Leidenſchaften, Furcht und Hoffnung, zur Seite, und knüpft dieſelbe an Gegenſtände, die auſser dem Gebiete der Erfahrung liegen. Wie leicht können daher Dogmen der Theologie, faſche Begriffe von der Gewalt des Teufels, von der Prädeſtination, von der Verſöhnung, von der Strafgerechtigkeit Gottes, von der Ewigkeit der Höllenſtrafen einen an Körper und Seele ſchwachen Menſchen, der krank, hypochon- driſch, durch Unglücksfälle gebeugt iſt, ſeine düſtere Phantaſie in ſtiller Einſamkeit nährt, und ſeinen Hang zum Wunderbaren durch myſtiſche Schriften befriedigt, zum Wahnſinn führen? Und wie ſchwer wird dieſer Schwärmer zu be- kehren ſeyn? Jeder Widerſpruch empört ihn, jeden Zweifel hält er für Gottesläſterung. Alle Vernunftgründe ſcheitern an ſeiner erhitzten Ein- bildungskraft. Man ſoll daher dem Wahnſinn aus dieſer Quelle vorbeugen, da er ſo ſchwer zu heilen iſt, den Fanatismus bekämpfen, die Re- ligion von Schwärmerey, Myſtik und Pietismus reinigen. Dies iſt freilich an manchen Orten ſo gut gelungen, daſs ſie ſelbſt über das viele Licht,
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gion. Der Menſch lebt zwar für die Gegen-
wart, genieſst ſie aber mit Zittern, wenn er nicht
Sicherheit für die Zukunft hat. Die Religion
wird uns zu früh vor der Reife des Verſtandes,
wenn wir jeden Eindruck feſthalten, ſie wird
uns als Glaubensſache eingeprägt, über die man
nicht vernünfteln ſoll. Ihr ſtellt man zwey mäch-
tige Leidenſchaften, Furcht und Hoffnung, zur
Seite, und knüpft dieſelbe an Gegenſtände, die
auſser dem Gebiete der Erfahrung liegen. Wie
leicht können daher Dogmen der Theologie,
faſche Begriffe von der Gewalt des Teufels, von
der Prädeſtination, von der Verſöhnung, von
der Strafgerechtigkeit Gottes, von der Ewigkeit
der Höllenſtrafen einen an Körper und Seele
ſchwachen Menſchen, der krank, hypochon-
driſch, durch Unglücksfälle gebeugt iſt, ſeine
düſtere Phantaſie in ſtiller Einſamkeit nährt, und
ſeinen Hang zum Wunderbaren durch myſtiſche
Schriften befriedigt, zum Wahnſinn führen?
Und wie ſchwer wird dieſer Schwärmer zu be-
kehren ſeyn? Jeder Widerſpruch empört ihn,
jeden Zweifel hält er für Gottesläſterung. Alle
Vernunftgründe ſcheitern an ſeiner erhitzten Ein-
bildungskraft. Man ſoll daher dem Wahnſinn
aus dieſer Quelle vorbeugen, da er ſo ſchwer zu
heilen iſt, den Fanatismus bekämpfen, die Re-
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/286>, abgerufen am 24.11.2024.
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