Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Berlin, 1839.Zweites Buch. Drittes Capitel. darum noch nicht, daß man sich den Kelch mit Gewaltwiedernehmen solle: er bestreitet nur die Argumente, mit denen man die Entziehung aus der Schrift hatte herlei- ten, rechtfertigen wollen: 1 den Spuren des ältern un- geänderten Gebrauchs geht er eifrig nach. Dann kommt er auf die Lehre von der Transsubstantiation. Wir erin- nern uns, daß Petrus Lombardus noch nicht gewagt hatte, die Verwandlung der Substanz des Brodes zu behaupten. Spätere trugen kein Bedenken dieß zu thun: sie lehrten, nur das Accidens bleibe übrig, und stützten sich dabei un- ter andern auch auf eine angeblich aristotelische Bestim- mung über Subject und Accidens. 2 Auf dieser Stelle nun finden wir Luther. Die Einwendungen des Peter von Ailly gegen diese Ansicht hatten schon früher Eindruck auf ihn gemacht; jetzt aber fand er überdieß, daß es un- recht sey, in die Schrift etwas hineinzutragen, was nicht darin liege, daß man ihre Worte nur in der einfachsten eigentlichsten Bedeutung zu nehmen habe; für ihn war es kein Argument mehr, daß die römische Kirche jene Vor- stellungsweise bestätigt habe: es war das ja eben jene tho- mistisch-aristotelische Kirche, mit der er sich in einem Kampf auf Leben und Tod befand. War doch Aristoteles über- dieß, wie er beweisen zu können glaubte, hier von S. Tho- mas nicht einmal verstanden worden! 3 Fast noch wich- 1 Contra tam patentes potentes scripturas; -- contra evi- dentes dei scripturas p. 262. 2 Eine Hauptstelle ist in der Summa divi Thomae: Pars III, qu. 75, art. IV, c. 1m. V, 4. 3 Opiniones in rebus fidei non modo ex Aristotele tra-
dere, sed et super eum, quem non intellexit, conatus est stabi- lire: infelicissimi fundamenti infelicissima structura. (p. 263.) Zweites Buch. Drittes Capitel. darum noch nicht, daß man ſich den Kelch mit Gewaltwiedernehmen ſolle: er beſtreitet nur die Argumente, mit denen man die Entziehung aus der Schrift hatte herlei- ten, rechtfertigen wollen: 1 den Spuren des ältern un- geänderten Gebrauchs geht er eifrig nach. Dann kommt er auf die Lehre von der Transſubſtantiation. Wir erin- nern uns, daß Petrus Lombardus noch nicht gewagt hatte, die Verwandlung der Subſtanz des Brodes zu behaupten. Spätere trugen kein Bedenken dieß zu thun: ſie lehrten, nur das Accidens bleibe übrig, und ſtützten ſich dabei un- ter andern auch auf eine angeblich ariſtoteliſche Beſtim- mung über Subject und Accidens. 2 Auf dieſer Stelle nun finden wir Luther. Die Einwendungen des Peter von Ailly gegen dieſe Anſicht hatten ſchon früher Eindruck auf ihn gemacht; jetzt aber fand er überdieß, daß es un- recht ſey, in die Schrift etwas hineinzutragen, was nicht darin liege, daß man ihre Worte nur in der einfachſten eigentlichſten Bedeutung zu nehmen habe; für ihn war es kein Argument mehr, daß die römiſche Kirche jene Vor- ſtellungsweiſe beſtätigt habe: es war das ja eben jene tho- miſtiſch-ariſtoteliſche Kirche, mit der er ſich in einem Kampf auf Leben und Tod befand. War doch Ariſtoteles über- dieß, wie er beweiſen zu können glaubte, hier von S. Tho- mas nicht einmal verſtanden worden! 3 Faſt noch wich- 1 Contra tam patentes potentes scripturas; — contra evi- dentes dei scripturas p. 262. 2 Eine Hauptſtelle iſt in der Summa divi Thomae: Pars III, qu. 75, art. IV, c. 1m. V, 4. 3 Opiniones in rebus fidei non modo ex Aristotele tra-
dere, sed et super eum, quem non intellexit, conatus est stabi- lire: infelicissimi fundamenti infelicissima structura. (p. 263.) <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0456" n="438"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweites Buch. Drittes Capitel</hi>.</fw><lb/> darum noch nicht, daß man ſich den Kelch mit Gewalt<lb/> wiedernehmen ſolle: er beſtreitet nur die Argumente, mit<lb/> denen man die Entziehung aus der Schrift hatte herlei-<lb/> ten, rechtfertigen wollen: <note place="foot" n="1"><hi rendition="#aq">Contra tam patentes potentes scripturas; — contra evi-<lb/> dentes dei scripturas p.</hi> 262.</note> den Spuren des ältern un-<lb/> geänderten Gebrauchs geht er eifrig nach. Dann kommt<lb/> er auf die Lehre von der Transſubſtantiation. Wir erin-<lb/> nern uns, daß Petrus Lombardus noch nicht gewagt hatte,<lb/> die Verwandlung der Subſtanz des Brodes zu behaupten.<lb/> Spätere trugen kein Bedenken dieß zu thun: ſie lehrten,<lb/> nur das Accidens bleibe übrig, und ſtützten ſich dabei un-<lb/> ter andern auch auf eine angeblich ariſtoteliſche Beſtim-<lb/> mung über Subject und Accidens. <note place="foot" n="2">Eine Hauptſtelle iſt in der <hi rendition="#aq">Summa divi Thomae: Pars III,<lb/> qu. 75, art. IV, c. 1<hi rendition="#sup">m</hi>. V,</hi> 4.</note> Auf dieſer Stelle<lb/> nun finden wir Luther. Die Einwendungen des Peter<lb/> von Ailly gegen dieſe Anſicht hatten ſchon früher Eindruck<lb/> auf ihn gemacht; jetzt aber fand er überdieß, daß es un-<lb/> recht ſey, in die Schrift etwas hineinzutragen, was nicht<lb/> darin liege, daß man ihre Worte nur in der einfachſten<lb/> eigentlichſten Bedeutung zu nehmen habe; für ihn war es<lb/> kein Argument mehr, daß die römiſche Kirche jene Vor-<lb/> ſtellungsweiſe beſtätigt habe: es war das ja eben jene tho-<lb/> miſtiſch-ariſtoteliſche Kirche, mit der er ſich in einem Kampf<lb/> auf Leben und Tod befand. War doch Ariſtoteles über-<lb/> dieß, wie er beweiſen zu können glaubte, hier von S. Tho-<lb/> mas nicht einmal verſtanden worden! <note place="foot" n="3"><hi rendition="#aq">Opiniones in rebus fidei non modo ex Aristotele tra-<lb/> dere, sed et super eum, quem non intellexit, conatus est stabi-<lb/> lire: infelicissimi fundamenti infelicissima structura. (p.</hi> 263.)</note> Faſt noch wich-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [438/0456]
Zweites Buch. Drittes Capitel.
darum noch nicht, daß man ſich den Kelch mit Gewalt
wiedernehmen ſolle: er beſtreitet nur die Argumente, mit
denen man die Entziehung aus der Schrift hatte herlei-
ten, rechtfertigen wollen: 1 den Spuren des ältern un-
geänderten Gebrauchs geht er eifrig nach. Dann kommt
er auf die Lehre von der Transſubſtantiation. Wir erin-
nern uns, daß Petrus Lombardus noch nicht gewagt hatte,
die Verwandlung der Subſtanz des Brodes zu behaupten.
Spätere trugen kein Bedenken dieß zu thun: ſie lehrten,
nur das Accidens bleibe übrig, und ſtützten ſich dabei un-
ter andern auch auf eine angeblich ariſtoteliſche Beſtim-
mung über Subject und Accidens. 2 Auf dieſer Stelle
nun finden wir Luther. Die Einwendungen des Peter
von Ailly gegen dieſe Anſicht hatten ſchon früher Eindruck
auf ihn gemacht; jetzt aber fand er überdieß, daß es un-
recht ſey, in die Schrift etwas hineinzutragen, was nicht
darin liege, daß man ihre Worte nur in der einfachſten
eigentlichſten Bedeutung zu nehmen habe; für ihn war es
kein Argument mehr, daß die römiſche Kirche jene Vor-
ſtellungsweiſe beſtätigt habe: es war das ja eben jene tho-
miſtiſch-ariſtoteliſche Kirche, mit der er ſich in einem Kampf
auf Leben und Tod befand. War doch Ariſtoteles über-
dieß, wie er beweiſen zu können glaubte, hier von S. Tho-
mas nicht einmal verſtanden worden! 3 Faſt noch wich-
1 Contra tam patentes potentes scripturas; — contra evi-
dentes dei scripturas p. 262.
2 Eine Hauptſtelle iſt in der Summa divi Thomae: Pars III,
qu. 75, art. IV, c. 1m. V, 4.
3 Opiniones in rebus fidei non modo ex Aristotele tra-
dere, sed et super eum, quem non intellexit, conatus est stabi-
lire: infelicissimi fundamenti infelicissima structura. (p. 263.)
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Zitationshilfe: | Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Berlin, 1839, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation01_1839/456>, abgerufen am 18.06.2024. |