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Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Berlin, 1839.

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Disputation zu Leipzig.
bestieg er das Catheder; ein großer Mann von starkem
Gliederbau, lauter, durchdringender Stimme; indem er
sprach, gieng er hin und her; auf jedes Argument hatte
er eine Einrede in Vorrath; sein Gedächtniß, seine Ge-
wandtheit blendeten die Zuhörer. In der Sache selbst,
den Erörterungen über Gnade und freien Willen kam man
natürlich nicht weiter. Zuweilen näherten sich die Strei-
tenden einander so weit, daß ein Jeder sich rühmte, den
Andern auf seine Seite gebracht zu haben; dann giengen
sie wieder aus einander. Eine Distinction Ecks etwa aus-
genommen ward nichts Neues vorgebracht; 1 die wichtig-
sten Puncte wurden kaum berührt; die Sache war zuwei-
len so langweilig, daß der Saal sich leerte.

Um so lebendiger ward die Theilnahme, als nun end-
lich Luther auftrat: Montag, den 4ten Juli, früh um sie-
ben Uhr: der Gegner, nach dem Eck vor allem verlangt,
über dessen aufkommenden Ruhm er auf das glänzendste
zu triumphiren hoffte. Luther war von mittlerer Gestalt:
damals noch sehr hager, Haut und Knochen: er besaß
nicht jenes donnernde Organ seines Widersachers, noch
sein in mancherlei Wissen fertiges Gedächtniß, noch seine
Übung und Gewandtheit in den Kämpfen der Schule.
Aber auch er stand in der Blüthe des männlichen Alters,
seinem 36sten Lebensjahre, der Fülle der Kraft: seine Stimme
war wohllautend und deutlich: er war in der Bibel voll-
kommen zu Hause und die treffendsten Sprüche stellten sich
ihm von selber dar; -- vor allem, er flößte das Gefühl ein,

1 Rogatus largireturne totum opus bonum esse a deo re-
spondit: totum quidem, non autem totaliter.
Melanchthon.
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Disputation zu Leipzig.
beſtieg er das Catheder; ein großer Mann von ſtarkem
Gliederbau, lauter, durchdringender Stimme; indem er
ſprach, gieng er hin und her; auf jedes Argument hatte
er eine Einrede in Vorrath; ſein Gedächtniß, ſeine Ge-
wandtheit blendeten die Zuhörer. In der Sache ſelbſt,
den Erörterungen über Gnade und freien Willen kam man
natürlich nicht weiter. Zuweilen näherten ſich die Strei-
tenden einander ſo weit, daß ein Jeder ſich rühmte, den
Andern auf ſeine Seite gebracht zu haben; dann giengen
ſie wieder aus einander. Eine Diſtinction Ecks etwa aus-
genommen ward nichts Neues vorgebracht; 1 die wichtig-
ſten Puncte wurden kaum berührt; die Sache war zuwei-
len ſo langweilig, daß der Saal ſich leerte.

Um ſo lebendiger ward die Theilnahme, als nun end-
lich Luther auftrat: Montag, den 4ten Juli, früh um ſie-
ben Uhr: der Gegner, nach dem Eck vor allem verlangt,
über deſſen aufkommenden Ruhm er auf das glänzendſte
zu triumphiren hoffte. Luther war von mittlerer Geſtalt:
damals noch ſehr hager, Haut und Knochen: er beſaß
nicht jenes donnernde Organ ſeines Widerſachers, noch
ſein in mancherlei Wiſſen fertiges Gedächtniß, noch ſeine
Übung und Gewandtheit in den Kämpfen der Schule.
Aber auch er ſtand in der Blüthe des männlichen Alters,
ſeinem 36ſten Lebensjahre, der Fülle der Kraft: ſeine Stimme
war wohllautend und deutlich: er war in der Bibel voll-
kommen zu Hauſe und die treffendſten Sprüche ſtellten ſich
ihm von ſelber dar; — vor allem, er flößte das Gefühl ein,

1 Rogatus largireturne totum opus bonum esse a deo re-
spondit: totum quidem, non autem totaliter.
Melanchthon.
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[403/0421] Disputation zu Leipzig. beſtieg er das Catheder; ein großer Mann von ſtarkem Gliederbau, lauter, durchdringender Stimme; indem er ſprach, gieng er hin und her; auf jedes Argument hatte er eine Einrede in Vorrath; ſein Gedächtniß, ſeine Ge- wandtheit blendeten die Zuhörer. In der Sache ſelbſt, den Erörterungen über Gnade und freien Willen kam man natürlich nicht weiter. Zuweilen näherten ſich die Strei- tenden einander ſo weit, daß ein Jeder ſich rühmte, den Andern auf ſeine Seite gebracht zu haben; dann giengen ſie wieder aus einander. Eine Diſtinction Ecks etwa aus- genommen ward nichts Neues vorgebracht; 1 die wichtig- ſten Puncte wurden kaum berührt; die Sache war zuwei- len ſo langweilig, daß der Saal ſich leerte. Um ſo lebendiger ward die Theilnahme, als nun end- lich Luther auftrat: Montag, den 4ten Juli, früh um ſie- ben Uhr: der Gegner, nach dem Eck vor allem verlangt, über deſſen aufkommenden Ruhm er auf das glänzendſte zu triumphiren hoffte. Luther war von mittlerer Geſtalt: damals noch ſehr hager, Haut und Knochen: er beſaß nicht jenes donnernde Organ ſeines Widerſachers, noch ſein in mancherlei Wiſſen fertiges Gedächtniß, noch ſeine Übung und Gewandtheit in den Kämpfen der Schule. Aber auch er ſtand in der Blüthe des männlichen Alters, ſeinem 36ſten Lebensjahre, der Fülle der Kraft: ſeine Stimme war wohllautend und deutlich: er war in der Bibel voll- kommen zu Hauſe und die treffendſten Sprüche ſtellten ſich ihm von ſelber dar; — vor allem, er flößte das Gefühl ein, 1 Rogatus largireturne totum opus bonum esse a deo re- spondit: totum quidem, non autem totaliter. Melanchthon. 26*

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Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Berlin, 1839, S. 403. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation01_1839/421>, abgerufen am 28.09.2024.