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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 3. Leipzig, 1787.

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Ueber die Kennz. des Kirchenstils

Der neue Künstler arbeitet also größtentheils aus
der Erinnerung, oder wenn ihm auch ein lebendes
Modell zur Nachbildung zu Theil wird, wie erhält er
es? Entstellt durch pressende Bekleidungen, die dem
Wuchs des Körpers eine schiefe Richtung gegeben ha-
ben 1): gewelkt durch Sorgen der Nahrung, abge-
mergelt durch mühselige Arbeit, erschlafft durch ent-
ehrenden Genuß der Freuden des Lebens, oder gar
durch Krankheiten, ihre Folgen.

In der That! solch ein Anblick ist eher im
Stande Ekel als Enthusiasmus zu erregen, und ich
weiß nicht, ob der Bildhauer Ursach hat, sich zu be-
klagen, daß das, was er so ungern darstellen möchte,
da er es nur so mangelhaft darstellen kann, ihm nun
auch nach den Begriffen seiner Religion sogar darzu-
stellen verwehrt wird.

Denn seitdem sich die Begriffe über den Umgang
beider Geschlechter und deren endlichen Zweck sehr ver-
ändert haben; seitdem die nackte Gestalt so selten ge-
worden ist, daß ihre Erscheinung allemal mit einer
mächtigen Regung der Einbildungskraft, und durch
diese mit einer starken Würkung auf die Sinne ver-
knüpft ist; seitdem hat man sehr wohl gethan, die Ver-
hüllung des Körpers an Orten, wo unser Geist mit
Dingen dieser Welt nicht beschäfftigt seyn soll, zur
Nothwendigkeit zu machen.

Diese Gründe entwickeln den ersten Unterschied
zwischen dem Stile der Alten und dem neuen Kirchen-
stile in der Sculptur. Jene verschleiert die nackte

Form
1) Z. E. Schnürbrüste, Schuhe. Beinahe kein Fuß
ist noch jetzt in seiner ursprünglichen Form.
Ueber die Kennz. des Kirchenſtils

Der neue Kuͤnſtler arbeitet alſo groͤßtentheils aus
der Erinnerung, oder wenn ihm auch ein lebendes
Modell zur Nachbildung zu Theil wird, wie erhaͤlt er
es? Entſtellt durch preſſende Bekleidungen, die dem
Wuchs des Koͤrpers eine ſchiefe Richtung gegeben ha-
ben 1): gewelkt durch Sorgen der Nahrung, abge-
mergelt durch muͤhſelige Arbeit, erſchlafft durch ent-
ehrenden Genuß der Freuden des Lebens, oder gar
durch Krankheiten, ihre Folgen.

In der That! ſolch ein Anblick iſt eher im
Stande Ekel als Enthuſiasmus zu erregen, und ich
weiß nicht, ob der Bildhauer Urſach hat, ſich zu be-
klagen, daß das, was er ſo ungern darſtellen moͤchte,
da er es nur ſo mangelhaft darſtellen kann, ihm nun
auch nach den Begriffen ſeiner Religion ſogar darzu-
ſtellen verwehrt wird.

Denn ſeitdem ſich die Begriffe uͤber den Umgang
beider Geſchlechter und deren endlichen Zweck ſehr ver-
aͤndert haben; ſeitdem die nackte Geſtalt ſo ſelten ge-
worden iſt, daß ihre Erſcheinung allemal mit einer
maͤchtigen Regung der Einbildungskraft, und durch
dieſe mit einer ſtarken Wuͤrkung auf die Sinne ver-
knuͤpft iſt; ſeitdem hat man ſehr wohl gethan, die Ver-
huͤllung des Koͤrpers an Orten, wo unſer Geiſt mit
Dingen dieſer Welt nicht beſchaͤfftigt ſeyn ſoll, zur
Nothwendigkeit zu machen.

Dieſe Gruͤnde entwickeln den erſten Unterſchied
zwiſchen dem Stile der Alten und dem neuen Kirchen-
ſtile in der Sculptur. Jene verſchleiert die nackte

Form
1) Z. E. Schnuͤrbruͤſte, Schuhe. Beinahe kein Fuß
iſt noch jetzt in ſeiner urſpruͤnglichen Form.
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[178/0202] Ueber die Kennz. des Kirchenſtils Der neue Kuͤnſtler arbeitet alſo groͤßtentheils aus der Erinnerung, oder wenn ihm auch ein lebendes Modell zur Nachbildung zu Theil wird, wie erhaͤlt er es? Entſtellt durch preſſende Bekleidungen, die dem Wuchs des Koͤrpers eine ſchiefe Richtung gegeben ha- ben 1): gewelkt durch Sorgen der Nahrung, abge- mergelt durch muͤhſelige Arbeit, erſchlafft durch ent- ehrenden Genuß der Freuden des Lebens, oder gar durch Krankheiten, ihre Folgen. In der That! ſolch ein Anblick iſt eher im Stande Ekel als Enthuſiasmus zu erregen, und ich weiß nicht, ob der Bildhauer Urſach hat, ſich zu be- klagen, daß das, was er ſo ungern darſtellen moͤchte, da er es nur ſo mangelhaft darſtellen kann, ihm nun auch nach den Begriffen ſeiner Religion ſogar darzu- ſtellen verwehrt wird. Denn ſeitdem ſich die Begriffe uͤber den Umgang beider Geſchlechter und deren endlichen Zweck ſehr ver- aͤndert haben; ſeitdem die nackte Geſtalt ſo ſelten ge- worden iſt, daß ihre Erſcheinung allemal mit einer maͤchtigen Regung der Einbildungskraft, und durch dieſe mit einer ſtarken Wuͤrkung auf die Sinne ver- knuͤpft iſt; ſeitdem hat man ſehr wohl gethan, die Ver- huͤllung des Koͤrpers an Orten, wo unſer Geiſt mit Dingen dieſer Welt nicht beſchaͤfftigt ſeyn ſoll, zur Nothwendigkeit zu machen. Dieſe Gruͤnde entwickeln den erſten Unterſchied zwiſchen dem Stile der Alten und dem neuen Kirchen- ſtile in der Sculptur. Jene verſchleiert die nackte Form 1) Z. E. Schnuͤrbruͤſte, Schuhe. Beinahe kein Fuß iſt noch jetzt in ſeiner urſpruͤnglichen Form.

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Zitationshilfe: Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 3. Leipzig, 1787, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei03_1787/202>, abgerufen am 22.11.2024.