Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 2. Leipzig, 1787.Pallast Boccapaduli. was ich ihnen auf ihr ehrlich Gesicht von der sichtba-ren Handlung zutrauen darf, als auf das, was ich ihnen Kraft bewährter Zeugnisse an Eigenschaften zu glauben muß, wenn gleich ihre Gestalt lügt. Wie oft ist dies der Fall bei individuellen Bildungen; wie oft hat eine Verwahrlosung in der Jugend, oder ein Unfall bei reiferen Jahren, einem Agesilaus ein hin- ckendes Bein, einem Alexander einen schiefen Hals gegeben! In den Künsten, die fürs Vergnügen arbeiten, hat das Wahrscheinliche allemal den Vor- zug vor dem Wahren. Von der Schwierigkeit, eine fremde Gestalt mit einem selbst gedachten Aus- drucke zu beleben, habe ich schon an einem andern Orte geredet. Ich kann also die Regel des dü Bos nur in dem Der höchste Mißbrauch historischer Treue würde Empfin- 6) Du Bos reflex. T. I. p. 251.
Pallaſt Boccapaduli. was ich ihnen auf ihr ehrlich Geſicht von der ſichtba-ren Handlung zutrauen darf, als auf das, was ich ihnen Kraft bewaͤhrter Zeugniſſe an Eigenſchaften zu glauben muß, wenn gleich ihre Geſtalt luͤgt. Wie oft iſt dies der Fall bei individuellen Bildungen; wie oft hat eine Verwahrloſung in der Jugend, oder ein Unfall bei reiferen Jahren, einem Ageſilaus ein hin- ckendes Bein, einem Alexander einen ſchiefen Hals gegeben! In den Kuͤnſten, die fuͤrs Vergnuͤgen arbeiten, hat das Wahrſcheinliche allemal den Vor- zug vor dem Wahren. Von der Schwierigkeit, eine fremde Geſtalt mit einem ſelbſt gedachten Aus- drucke zu beleben, habe ich ſchon an einem andern Orte geredet. Ich kann alſo die Regel des duͤ Bos nur in dem Der hoͤchſte Mißbrauch hiſtoriſcher Treue wuͤrde Empfin- 6) Du Bos reflex. T. I. p. 251.
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Pallaſt Boccapaduli.
was ich ihnen auf ihr ehrlich Geſicht von der ſichtba-
ren Handlung zutrauen darf, als auf das, was ich
ihnen Kraft bewaͤhrter Zeugniſſe an Eigenſchaften zu
glauben muß, wenn gleich ihre Geſtalt luͤgt. Wie
oft iſt dies der Fall bei individuellen Bildungen; wie
oft hat eine Verwahrloſung in der Jugend, oder ein
Unfall bei reiferen Jahren, einem Ageſilaus ein hin-
ckendes Bein, einem Alexander einen ſchiefen Hals
gegeben! In den Kuͤnſten, die fuͤrs Vergnuͤgen
arbeiten, hat das Wahrſcheinliche allemal den Vor-
zug vor dem Wahren. Von der Schwierigkeit,
eine fremde Geſtalt mit einem ſelbſt gedachten Aus-
drucke zu beleben, habe ich ſchon an einem andern
Orte geredet.
Ich kann alſo die Regel des duͤ Bos nur in dem
Falle als richtig gelten laſſen, wenn die beſtimmte
Bildung ſo allgemein bekannt und gewoͤhnlich iſt,
daß der Mahler, ohne mich in die Irre zu fuͤhren,
dieſelbe unveraͤndert laſſen muß. Z. E. die Stutznaſe
des Socrates, die kurze ſtaͤmmige Figur des heiligen
Petrus. Wie wenig kommt dabei hiſtoriſche Treue
in Anſchlag? En imitation l’ idée reçuë, et
generalement établie tient lieu de verité. 6)
Der hoͤchſte Mißbrauch hiſtoriſcher Treue wuͤrde
unſtreitig in den bildenden Kuͤnſten dieſer ſeyn, wenn
der Kuͤnſtler den Ausdruck der Affekten durch die ſitt-
liche Denkungsart der Vorwelt wollte motiviren
laſſen. Moͤgen immerhin die Alten vermoͤge ihrer
politiſchen, moraliſchen und phyſiſchen Erziehung ihre
Empfin-
6) Du Bos reflex. T. I. p. 251.
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