Man streitet von beiden Seiten mit guten Grün- den über die Frage: ob Correggio seine Talente allein der Natur, oder zu gleicher Zeit einer gebildeten Er- ziehung, und der Kenntniß der Werke seiner Vor- gänger in neueren Zeiten, und der Antike zu danken gehabt habe?
Diejenigen, die dies leugnen, setzen ihn in die niedrigste Classe des Pöbels, und behaupten, daß er unter der Sorge für die nothdürftigsten Bedürf- nisse des Lebens erlegen sey. Die andern machen ihn zu einem wohlhabenden Mann von der besten Abkunft, und spüren in jedem Zuge seines Pinsels ein Vorbild aus älteren Kunstwerken auf. Man geht auf beiden Seiten zu weit. Es scheint kaum wahrscheinlich, daß ein Mann, der von Kindheit an gegen Elend angekämpft hat, das feine Empfindniß heiterer Schönheit habe bewahren können, das seine Werke auszeichnet. Ohnstreitig trifft man in den Werken des Andrea Mantegna, seines Zeitgenossen und wahrscheinlich seines Lehrers, jene Spuren des Re- flexes an, die er nachher bis zur höchsten Vollkom- menheit ausgebildet hat; in den Werken des Leonardo da Vinci jene Idee von Grazie, der er das Gezwun- gene zu benehmen wußte; und in der Antike jene Größe der Formen, die er in seine Köpfe übertrug, wenn er sie gleich durch einen Zusatz übertriebener Ge- fälligkeit oft wieder verkleinert hat.
Allein diese Wegweiser haben seinem Geschmack nur von weitem Richtung gegeben. Er scheint ihre Vorzüge dunkel und im Allgemeinen empfunden, und mit Hülfe der ihm eigenen Perceptionsart in die
Erfah-
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Pallaſt Colonna.
Man ſtreitet von beiden Seiten mit guten Gruͤn- den uͤber die Frage: ob Correggio ſeine Talente allein der Natur, oder zu gleicher Zeit einer gebildeten Er- ziehung, und der Kenntniß der Werke ſeiner Vor- gaͤnger in neueren Zeiten, und der Antike zu danken gehabt habe?
Diejenigen, die dies leugnen, ſetzen ihn in die niedrigſte Claſſe des Poͤbels, und behaupten, daß er unter der Sorge fuͤr die nothduͤrftigſten Beduͤrf- niſſe des Lebens erlegen ſey. Die andern machen ihn zu einem wohlhabenden Mann von der beſten Abkunft, und ſpuͤren in jedem Zuge ſeines Pinſels ein Vorbild aus aͤlteren Kunſtwerken auf. Man geht auf beiden Seiten zu weit. Es ſcheint kaum wahrſcheinlich, daß ein Mann, der von Kindheit an gegen Elend angekaͤmpft hat, das feine Empfindniß heiterer Schoͤnheit habe bewahren koͤnnen, das ſeine Werke auszeichnet. Ohnſtreitig trifft man in den Werken des Andrea Mantegna, ſeines Zeitgenoſſen und wahrſcheinlich ſeines Lehrers, jene Spuren des Re- flexes an, die er nachher bis zur hoͤchſten Vollkom- menheit ausgebildet hat; in den Werken des Leonardo da Vinci jene Idee von Grazie, der er das Gezwun- gene zu benehmen wußte; und in der Antike jene Groͤße der Formen, die er in ſeine Koͤpfe uͤbertrug, wenn er ſie gleich durch einen Zuſatz uͤbertriebener Ge- faͤlligkeit oft wieder verkleinert hat.
Allein dieſe Wegweiſer haben ſeinem Geſchmack nur von weitem Richtung gegeben. Er ſcheint ihre Vorzuͤge dunkel und im Allgemeinen empfunden, und mit Huͤlfe der ihm eigenen Perceptionsart in die
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Pallaſt Colonna.
Man ſtreitet von beiden Seiten mit guten Gruͤn-
den uͤber die Frage: ob Correggio ſeine Talente allein
der Natur, oder zu gleicher Zeit einer gebildeten Er-
ziehung, und der Kenntniß der Werke ſeiner Vor-
gaͤnger in neueren Zeiten, und der Antike zu danken
gehabt habe?
Diejenigen, die dies leugnen, ſetzen ihn in die
niedrigſte Claſſe des Poͤbels, und behaupten, daß
er unter der Sorge fuͤr die nothduͤrftigſten Beduͤrf-
niſſe des Lebens erlegen ſey. Die andern machen ihn
zu einem wohlhabenden Mann von der beſten Abkunft,
und ſpuͤren in jedem Zuge ſeines Pinſels ein Vorbild
aus aͤlteren Kunſtwerken auf. Man geht auf beiden
Seiten zu weit. Es ſcheint kaum wahrſcheinlich,
daß ein Mann, der von Kindheit an gegen Elend
angekaͤmpft hat, das feine Empfindniß heiterer
Schoͤnheit habe bewahren koͤnnen, das ſeine Werke
auszeichnet. Ohnſtreitig trifft man in den Werken
des Andrea Mantegna, ſeines Zeitgenoſſen und
wahrſcheinlich ſeines Lehrers, jene Spuren des Re-
flexes an, die er nachher bis zur hoͤchſten Vollkom-
menheit ausgebildet hat; in den Werken des Leonardo
da Vinci jene Idee von Grazie, der er das Gezwun-
gene zu benehmen wußte; und in der Antike jene
Groͤße der Formen, die er in ſeine Koͤpfe uͤbertrug,
wenn er ſie gleich durch einen Zuſatz uͤbertriebener Ge-
faͤlligkeit oft wieder verkleinert hat.
Allein dieſe Wegweiſer haben ſeinem Geſchmack
nur von weitem Richtung gegeben. Er ſcheint ihre
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mit Huͤlfe der ihm eigenen Perceptionsart in die
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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 2. Leipzig, 1787, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei02_1787/103>, abgerufen am 03.07.2024.
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