Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755.

Bild:
<< vorherige Seite

Abhandlung von Sprüchwörtern.
nen zu finden; so wird man doch bey einer genau-
ern Untersuchung merken, daß es eben die Leiden-
schaften, eben die Angewohnheiten ihrer Jugend,
nur unter einem andern Anstriche sind: So wie
das Gesicht des Greises in Ansehung der Haupt-
lineamente noch eben das Gesicht ist, das er in der
Jugend gehabt hat; die Runzeln haben ihm nur
ein anderes Ansehn gegeben.

Wer sollte glauben, daß die Frau Richard-
tinn,
diese alte Betschwester, noch in diesem Au-
genblicke eben die feine Buhlerinn ist, die sie vor
fünf und dreyßig Jahren war? Damals schminkte
sie sich, um schön zu sehen; itzt thut sie es nicht, um
den heuchlerischen Ruhm einer frommen und ein-
fältigen Christinn zu erlangen. Jhre schmachten-
den Blicke flatterten in Gesellschaften, und in der
Kirche herum, um neue Eroberungen zu machen:
Diese Bewegungen sind ihre Augen einmal ge-
wohnt; sie können noch itzt nicht ruhen, und weil
die verderbte Welt diese matten Augen nicht wei-
ter bemerken will, so wälzen sie sich andächtig her-
um, und sehen gen Himmel. Man gebe einmal
auf sie Acht, wenn sie in ihrem Betstuhle knieet,
den sie aus ihrem alten Triebe, bewundert zu wer-
den, mitten in der Kirche, und vor den Augen
des Priesters gemiethet hat; man gebe nur einige
Minuten auf sie Acht. Wenn die ganze Ver-
sammlung stille ist, so wird man hören, daß sie
mit den großen silbernen Schlössern ihres Gebet-
buchs eben so künstlich rauscht, als sie es in jungen

Jahren
K 4

Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern.
nen zu finden; ſo wird man doch bey einer genau-
ern Unterſuchung merken, daß es eben die Leiden-
ſchaften, eben die Angewohnheiten ihrer Jugend,
nur unter einem andern Anſtriche ſind: So wie
das Geſicht des Greiſes in Anſehung der Haupt-
lineamente noch eben das Geſicht iſt, das er in der
Jugend gehabt hat; die Runzeln haben ihm nur
ein anderes Anſehn gegeben.

Wer ſollte glauben, daß die Frau Richard-
tinn,
dieſe alte Betſchweſter, noch in dieſem Au-
genblicke eben die feine Buhlerinn iſt, die ſie vor
fuͤnf und dreyßig Jahren war? Damals ſchminkte
ſie ſich, um ſchoͤn zu ſehen; itzt thut ſie es nicht, um
den heuchleriſchen Ruhm einer frommen und ein-
faͤltigen Chriſtinn zu erlangen. Jhre ſchmachten-
den Blicke flatterten in Geſellſchaften, und in der
Kirche herum, um neue Eroberungen zu machen:
Dieſe Bewegungen ſind ihre Augen einmal ge-
wohnt; ſie koͤnnen noch itzt nicht ruhen, und weil
die verderbte Welt dieſe matten Augen nicht wei-
ter bemerken will, ſo waͤlzen ſie ſich andaͤchtig her-
um, und ſehen gen Himmel. Man gebe einmal
auf ſie Acht, wenn ſie in ihrem Betſtuhle knieet,
den ſie aus ihrem alten Triebe, bewundert zu wer-
den, mitten in der Kirche, und vor den Augen
des Prieſters gemiethet hat; man gebe nur einige
Minuten auf ſie Acht. Wenn die ganze Ver-
ſammlung ſtille iſt, ſo wird man hoͤren, daß ſie
mit den großen ſilbernen Schloͤſſern ihres Gebet-
buchs eben ſo kuͤnſtlich rauſcht, als ſie es in jungen

Jahren
K 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0173" n="151"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Abhandlung von Spru&#x0364;chwo&#x0364;rtern.</hi></fw><lb/>
nen zu finden; &#x017F;o wird man doch bey einer genau-<lb/>
ern Unter&#x017F;uchung merken, daß es eben die Leiden-<lb/>
&#x017F;chaften, eben die Angewohnheiten ihrer Jugend,<lb/>
nur unter einem andern An&#x017F;triche &#x017F;ind: So wie<lb/>
das Ge&#x017F;icht des Grei&#x017F;es in An&#x017F;ehung der Haupt-<lb/>
lineamente noch eben das Ge&#x017F;icht i&#x017F;t, das er in der<lb/>
Jugend gehabt hat; die Runzeln haben ihm nur<lb/>
ein anderes An&#x017F;ehn gegeben.</p><lb/>
          <p>Wer &#x017F;ollte glauben, daß die Frau <hi rendition="#fr">Richard-<lb/>
tinn,</hi> die&#x017F;e alte Bet&#x017F;chwe&#x017F;ter, noch in die&#x017F;em Au-<lb/>
genblicke eben die feine Buhlerinn i&#x017F;t, die &#x017F;ie vor<lb/>
fu&#x0364;nf und dreyßig Jahren war? Damals &#x017F;chminkte<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ich, um &#x017F;cho&#x0364;n zu &#x017F;ehen; itzt thut &#x017F;ie es nicht, um<lb/>
den heuchleri&#x017F;chen Ruhm einer frommen und ein-<lb/>
fa&#x0364;ltigen Chri&#x017F;tinn zu erlangen. Jhre &#x017F;chmachten-<lb/>
den Blicke flatterten in Ge&#x017F;ell&#x017F;chaften, und in der<lb/>
Kirche herum, um neue Eroberungen zu machen:<lb/>
Die&#x017F;e Bewegungen &#x017F;ind ihre Augen einmal ge-<lb/>
wohnt; &#x017F;ie ko&#x0364;nnen noch itzt nicht ruhen, und weil<lb/>
die verderbte Welt die&#x017F;e matten Augen nicht wei-<lb/>
ter bemerken will, &#x017F;o wa&#x0364;lzen &#x017F;ie &#x017F;ich anda&#x0364;chtig her-<lb/>
um, und &#x017F;ehen gen Himmel. Man gebe einmal<lb/>
auf &#x017F;ie Acht, wenn &#x017F;ie in ihrem Bet&#x017F;tuhle knieet,<lb/>
den &#x017F;ie aus ihrem alten Triebe, bewundert zu wer-<lb/>
den, mitten in der Kirche, und vor den Augen<lb/>
des Prie&#x017F;ters gemiethet hat; man gebe nur einige<lb/>
Minuten auf &#x017F;ie Acht. Wenn die ganze Ver-<lb/>
&#x017F;ammlung &#x017F;tille i&#x017F;t, &#x017F;o wird man ho&#x0364;ren, daß &#x017F;ie<lb/>
mit den großen &#x017F;ilbernen Schlo&#x0364;&#x017F;&#x017F;ern ihres Gebet-<lb/>
buchs eben &#x017F;o ku&#x0364;n&#x017F;tlich rau&#x017F;cht, als &#x017F;ie es in jungen<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">K 4</fw><fw place="bottom" type="catch">Jahren</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[151/0173] Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern. nen zu finden; ſo wird man doch bey einer genau- ern Unterſuchung merken, daß es eben die Leiden- ſchaften, eben die Angewohnheiten ihrer Jugend, nur unter einem andern Anſtriche ſind: So wie das Geſicht des Greiſes in Anſehung der Haupt- lineamente noch eben das Geſicht iſt, das er in der Jugend gehabt hat; die Runzeln haben ihm nur ein anderes Anſehn gegeben. Wer ſollte glauben, daß die Frau Richard- tinn, dieſe alte Betſchweſter, noch in dieſem Au- genblicke eben die feine Buhlerinn iſt, die ſie vor fuͤnf und dreyßig Jahren war? Damals ſchminkte ſie ſich, um ſchoͤn zu ſehen; itzt thut ſie es nicht, um den heuchleriſchen Ruhm einer frommen und ein- faͤltigen Chriſtinn zu erlangen. Jhre ſchmachten- den Blicke flatterten in Geſellſchaften, und in der Kirche herum, um neue Eroberungen zu machen: Dieſe Bewegungen ſind ihre Augen einmal ge- wohnt; ſie koͤnnen noch itzt nicht ruhen, und weil die verderbte Welt dieſe matten Augen nicht wei- ter bemerken will, ſo waͤlzen ſie ſich andaͤchtig her- um, und ſehen gen Himmel. Man gebe einmal auf ſie Acht, wenn ſie in ihrem Betſtuhle knieet, den ſie aus ihrem alten Triebe, bewundert zu wer- den, mitten in der Kirche, und vor den Augen des Prieſters gemiethet hat; man gebe nur einige Minuten auf ſie Acht. Wenn die ganze Ver- ſammlung ſtille iſt, ſo wird man hoͤren, daß ſie mit den großen ſilbernen Schloͤſſern ihres Gebet- buchs eben ſo kuͤnſtlich rauſcht, als ſie es in jungen Jahren K 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755/173
Zitationshilfe: [Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755/173>, abgerufen am 27.11.2024.