[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755.Antons Panßa von Mancha ken nicht mehr in Ohnmacht. Sie blieb also ste-hen. Sie freute sich, ihn zu sehen, wie sich eine Schwester über die unerwartete Ankunft eines ge- liebten Bruders freuet. Sie erkundigte sich nach der Ursache seiner tiefen Trauer, und erfuhr eine Neuigkeit, bey der ihre Runzeln errötheten. Diego wiederholte einige Tage hinter einander seinen Be- such. Er war frey. Jsabelle hatte den Schritt noch nicht gethan, der sie genöthigt hätte, eine Gelübde zu halten, die ihr nunmehr gewiß eben so unerträglich würde gewesen seyn, als sie ei- nem feurigen Kinde von funfzehn Jahren ist, wel- che der Geiz des Vaters und der Haß einer eigen- nützigen Stiefmutter dem Herrn opfert. Diego und Jsabelle gestunden also einander, daß sie sich noch beide eben so liebten, wie vor vierzig Jah- ren. Nun war keine Hinderung weiter im Wege, welche sie abhalten konnte, ihre Liebe öffentlich zu gestehen. Sie reisten nach Buentara, und sahen einander noch eben so zärtlich an, als sie vor vier- zig Jahren einander geküßt hatten. Wenn Diego recht jugendlich vergnügt seyn wollte, so setzte er sich mit seiner Cither unter eben den Erker, unter welchem er in seiner Jugend geseufzet hatte. Hier spielte er zu Ehren seiner Jsabelle den horchenden Enkeln die rührenden Lieder vor, über welche ihre Großväter so oft eifersüchtig geworden waren. Sein Glück dauerte nicht lange; er starb, und hinterließ Jsabellen, als eine Wittwe von ein und sechzig Jahren, welche über diesen Tod so untröstbar war, daß sie, wie man mich gewiß ver-
Antons Panßa von Mancha ken nicht mehr in Ohnmacht. Sie blieb alſo ſte-hen. Sie freute ſich, ihn zu ſehen, wie ſich eine Schweſter uͤber die unerwartete Ankunft eines ge- liebten Bruders freuet. Sie erkundigte ſich nach der Urſache ſeiner tiefen Trauer, und erfuhr eine Neuigkeit, bey der ihre Runzeln erroͤtheten. Diego wiederholte einige Tage hinter einander ſeinen Be- ſuch. Er war frey. Jſabelle hatte den Schritt noch nicht gethan, der ſie genoͤthigt haͤtte, eine Geluͤbde zu halten, die ihr nunmehr gewiß eben ſo unertraͤglich wuͤrde geweſen ſeyn, als ſie ei- nem feurigen Kinde von funfzehn Jahren iſt, wel- che der Geiz des Vaters und der Haß einer eigen- nuͤtzigen Stiefmutter dem Herrn opfert. Diego und Jſabelle geſtunden alſo einander, daß ſie ſich noch beide eben ſo liebten, wie vor vierzig Jah- ren. Nun war keine Hinderung weiter im Wege, welche ſie abhalten konnte, ihre Liebe oͤffentlich zu geſtehen. Sie reiſten nach Buentara, und ſahen einander noch eben ſo zaͤrtlich an, als ſie vor vier- zig Jahren einander gekuͤßt hatten. Wenn Diego recht jugendlich vergnuͤgt ſeyn wollte, ſo ſetzte er ſich mit ſeiner Cither unter eben den Erker, unter welchem er in ſeiner Jugend geſeufzet hatte. Hier ſpielte er zu Ehren ſeiner Jſabelle den horchenden Enkeln die ruͤhrenden Lieder vor, uͤber welche ihre Großvaͤter ſo oft eiferſuͤchtig geworden waren. Sein Gluͤck dauerte nicht lange; er ſtarb, und hinterließ Jſabellen, als eine Wittwe von ein und ſechzig Jahren, welche uͤber dieſen Tod ſo untroͤſtbar war, daß ſie, wie man mich gewiß ver-
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Antons Panßa von Mancha
ken nicht mehr in Ohnmacht. Sie blieb alſo ſte-
hen. Sie freute ſich, ihn zu ſehen, wie ſich eine
Schweſter uͤber die unerwartete Ankunft eines ge-
liebten Bruders freuet. Sie erkundigte ſich nach
der Urſache ſeiner tiefen Trauer, und erfuhr eine
Neuigkeit, bey der ihre Runzeln erroͤtheten. Diego
wiederholte einige Tage hinter einander ſeinen Be-
ſuch. Er war frey. Jſabelle hatte den Schritt
noch nicht gethan, der ſie genoͤthigt haͤtte, eine
Geluͤbde zu halten, die ihr nunmehr gewiß eben
ſo unertraͤglich wuͤrde geweſen ſeyn, als ſie ei-
nem feurigen Kinde von funfzehn Jahren iſt, wel-
che der Geiz des Vaters und der Haß einer eigen-
nuͤtzigen Stiefmutter dem Herrn opfert. Diego
und Jſabelle geſtunden alſo einander, daß ſie ſich
noch beide eben ſo liebten, wie vor vierzig Jah-
ren. Nun war keine Hinderung weiter im Wege,
welche ſie abhalten konnte, ihre Liebe oͤffentlich zu
geſtehen. Sie reiſten nach Buentara, und ſahen
einander noch eben ſo zaͤrtlich an, als ſie vor vier-
zig Jahren einander gekuͤßt hatten. Wenn Diego
recht jugendlich vergnuͤgt ſeyn wollte, ſo ſetzte er
ſich mit ſeiner Cither unter eben den Erker, unter
welchem er in ſeiner Jugend geſeufzet hatte. Hier
ſpielte er zu Ehren ſeiner Jſabelle den horchenden
Enkeln die ruͤhrenden Lieder vor, uͤber welche ihre
Großvaͤter ſo oft eiferſuͤchtig geworden waren.
Sein Gluͤck dauerte nicht lange; er ſtarb, und
hinterließ Jſabellen, als eine Wittwe von ein
und ſechzig Jahren, welche uͤber dieſen Tod ſo
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