Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 4. Stuttgart, 1831.

Bild:
<< vorherige Seite

bei welchen die meisten angeblich schockirenden Dinge,
und selbst der obligate Königstrompeter, nie fehlen,
dennoch einen so vollständig befriedigenden, durch
nichts gestörten Eindruck auf mich gemacht haben, als
Lesen und Vorlesenhören (selbst von Tiek, dem be-
sten Vorleser den ich kenne) nie, auch nur im ent-
ferntesten Grade, hervorbringen konnten. Ja ich ge-
stehe, daß ich erst seitdem die ganze gigantische Pro-
portion Shakspeares in ihrem vollen Umfang em-
pfunden habe. Freilich gehört dazu ein solches Zu-
sammenspiel, und so große Schauspieler für die Haupt-
rollen wie sie uns gänzlich abgehen, denn Macbeths
in Berlin, -- wie Clauren sagen würde -- und die-
selben in England sind eben so verschiedne Leute als
Shakspeare selbst und sein vortrefflicher Commentator
Franz Horn. Die ersten hiesigen Schauspieler, wie
Kean, Kemble, Young u. s. w. sind, wie ich schon
an andern Orten erwähnt, Männer von großer Bil-
dung, die zum Theil in der besten Gesellschaft leben,
und dem ernstesten Studium ihres Nationaldichters
ihr Leben weihen. Selten nur treten sie in andern
Rollen auf, und brauchen nicht, wie unsre Kunstlast-
Thiere, jeden Augenblick einen tragischen Helden
mit einem Ifflandischen Geheimenrath, oder den Tal-
bot mit Herrn von Langsalm zu vertauschen, nicht
heute im Othello und morgen im Wollmarkt aufzu-
treten.

Sehr sonderbar fällt es auf, daß scheinbar, und
zum größten Theil auch wirklich, das Publikum, vor
dem diese Künstler sich produciren, ein so rohes und

Briefe eines Verstorbenen IV. 22

bei welchen die meiſten angeblich ſchockirenden Dinge,
und ſelbſt der obligate Königstrompeter, nie fehlen,
dennoch einen ſo vollſtändig befriedigenden, durch
nichts geſtörten Eindruck auf mich gemacht haben, als
Leſen und Vorleſenhören (ſelbſt von Tiek, dem be-
ſten Vorleſer den ich kenne) nie, auch nur im ent-
fernteſten Grade, hervorbringen konnten. Ja ich ge-
ſtehe, daß ich erſt ſeitdem die ganze gigantiſche Pro-
portion Shakspeares in ihrem vollen Umfang em-
pfunden habe. Freilich gehört dazu ein ſolches Zu-
ſammenſpiel, und ſo große Schauſpieler für die Haupt-
rollen wie ſie uns gänzlich abgehen, denn Macbeths
in Berlin, — wie Clauren ſagen würde — und die-
ſelben in England ſind eben ſo verſchiedne Leute als
Shakspeare ſelbſt und ſein vortrefflicher Commentator
Franz Horn. Die erſten hieſigen Schauſpieler, wie
Kean, Kemble, Young u. ſ. w. ſind, wie ich ſchon
an andern Orten erwähnt, Männer von großer Bil-
dung, die zum Theil in der beſten Geſellſchaft leben,
und dem ernſteſten Studium ihres Nationaldichters
ihr Leben weihen. Selten nur treten ſie in andern
Rollen auf, und brauchen nicht, wie unſre Kunſtlaſt-
Thiere, jeden Augenblick einen tragiſchen Helden
mit einem Ifflandiſchen Geheimenrath, oder den Tal-
bot mit Herrn von Langſalm zu vertauſchen, nicht
heute im Othello und morgen im Wollmarkt aufzu-
treten.

Sehr ſonderbar fällt es auf, daß ſcheinbar, und
zum größten Theil auch wirklich, das Publikum, vor
dem dieſe Künſtler ſich produciren, ein ſo rohes und

Briefe eines Verſtorbenen IV. 22
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0355" n="237[337]"/>
bei welchen die mei&#x017F;ten angeblich &#x017F;chockirenden Dinge,<lb/>
und &#x017F;elb&#x017F;t der obligate Königstrompeter, nie fehlen,<lb/>
dennoch einen &#x017F;o voll&#x017F;tändig befriedigenden, durch<lb/>
nichts ge&#x017F;törten Eindruck auf mich gemacht haben, als<lb/>
Le&#x017F;en und Vorle&#x017F;enhören (&#x017F;elb&#x017F;t von Tiek, dem be-<lb/>
&#x017F;ten Vorle&#x017F;er den ich kenne) nie, auch nur im ent-<lb/>
fernte&#x017F;ten Grade, hervorbringen konnten. Ja ich ge-<lb/>
&#x017F;tehe, daß ich er&#x017F;t &#x017F;eitdem die ganze giganti&#x017F;che Pro-<lb/>
portion Shakspeares in ihrem vollen Umfang em-<lb/>
pfunden habe. Freilich gehört dazu ein &#x017F;olches Zu-<lb/>
&#x017F;ammen&#x017F;piel, und &#x017F;o große Schau&#x017F;pieler für die Haupt-<lb/>
rollen wie &#x017F;ie <hi rendition="#g">uns</hi> gänzlich abgehen, denn Macbeths<lb/>
in Berlin, &#x2014; wie Clauren &#x017F;agen würde &#x2014; und die-<lb/>
&#x017F;elben in England &#x017F;ind eben &#x017F;o ver&#x017F;chiedne Leute als<lb/>
Shakspeare &#x017F;elb&#x017F;t und &#x017F;ein vortrefflicher Commentator<lb/>
Franz Horn. Die er&#x017F;ten hie&#x017F;igen Schau&#x017F;pieler, wie<lb/>
Kean, Kemble, Young u. &#x017F;. w. &#x017F;ind, wie ich &#x017F;chon<lb/>
an andern Orten erwähnt, Männer von großer Bil-<lb/>
dung, die zum Theil in der be&#x017F;ten Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft leben,<lb/>
und dem ern&#x017F;te&#x017F;ten Studium ihres Nationaldichters<lb/>
ihr Leben weihen. Selten nur treten &#x017F;ie in andern<lb/>
Rollen auf, und brauchen nicht, wie un&#x017F;re Kun&#x017F;tla&#x017F;t-<lb/>
Thiere, jeden Augenblick einen tragi&#x017F;chen Helden<lb/>
mit einem Ifflandi&#x017F;chen Geheimenrath, oder den Tal-<lb/>
bot mit Herrn von Lang&#x017F;alm zu vertau&#x017F;chen, nicht<lb/>
heute im Othello und morgen im Wollmarkt aufzu-<lb/>
treten.</p><lb/>
          <p>Sehr &#x017F;onderbar fällt es auf, daß &#x017F;cheinbar, und<lb/>
zum größten Theil auch wirklich, das Publikum, vor<lb/>
dem die&#x017F;e Kün&#x017F;tler &#x017F;ich produciren, ein &#x017F;o rohes und<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Briefe eines Ver&#x017F;torbenen <hi rendition="#aq">IV.</hi> 22</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[237[337]/0355] bei welchen die meiſten angeblich ſchockirenden Dinge, und ſelbſt der obligate Königstrompeter, nie fehlen, dennoch einen ſo vollſtändig befriedigenden, durch nichts geſtörten Eindruck auf mich gemacht haben, als Leſen und Vorleſenhören (ſelbſt von Tiek, dem be- ſten Vorleſer den ich kenne) nie, auch nur im ent- fernteſten Grade, hervorbringen konnten. Ja ich ge- ſtehe, daß ich erſt ſeitdem die ganze gigantiſche Pro- portion Shakspeares in ihrem vollen Umfang em- pfunden habe. Freilich gehört dazu ein ſolches Zu- ſammenſpiel, und ſo große Schauſpieler für die Haupt- rollen wie ſie uns gänzlich abgehen, denn Macbeths in Berlin, — wie Clauren ſagen würde — und die- ſelben in England ſind eben ſo verſchiedne Leute als Shakspeare ſelbſt und ſein vortrefflicher Commentator Franz Horn. Die erſten hieſigen Schauſpieler, wie Kean, Kemble, Young u. ſ. w. ſind, wie ich ſchon an andern Orten erwähnt, Männer von großer Bil- dung, die zum Theil in der beſten Geſellſchaft leben, und dem ernſteſten Studium ihres Nationaldichters ihr Leben weihen. Selten nur treten ſie in andern Rollen auf, und brauchen nicht, wie unſre Kunſtlaſt- Thiere, jeden Augenblick einen tragiſchen Helden mit einem Ifflandiſchen Geheimenrath, oder den Tal- bot mit Herrn von Langſalm zu vertauſchen, nicht heute im Othello und morgen im Wollmarkt aufzu- treten. Sehr ſonderbar fällt es auf, daß ſcheinbar, und zum größten Theil auch wirklich, das Publikum, vor dem dieſe Künſtler ſich produciren, ein ſo rohes und Briefe eines Verſtorbenen IV. 22

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe04_1831
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe04_1831/355
Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 4. Stuttgart, 1831, S. 237[337]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe04_1831/355>, abgerufen am 18.05.2024.