Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 1. München, 1830.

Bild:
<< vorherige Seite

men, deren Gerippe sie, sobald der Platz fehlt, ohne
Umstände herauswerfen. Daher sind alle diese Rui-
nen mehr oder weniger mit Haufen von wild unter-
einander gewürfelten Schädeln und Gebeinen ange-
füllt, die nur zuweilen theilweise von den Kindern,
als Spielwerk, in Pyramiden oder andere Formen
aufgestellt werden. Ich erstieg, über solche Steine
und Knochen mich emporarbeitend, ein verfallnes Ge-
mach des zweiten Stockes, und weidete mich an dem
fremdartigen romantischen Gemälde. Zu meiner Lin-
ken war die Mauer hinabgesunken, und öffnete dem
Blick die schöne Landschaft, die den See umgiebt, mit
hellgrünem Vorgrunde, dem Gebürge in der Ferne,
und seitwärts dem Schlosse und den hohen Bäumen
des Parkes der Macnamara's, welche hier residiren.
Vor mir stand noch ganz wohlerhalten ein vortreff-
lich gearbeitetes, wie mit point d'Alencon eingefaßtes
Fenster; über ihm hingen, unzugänglich auf der frei-
stehenden Mauer, ganze Trauben schwarzblauer Brom-
beeren von den üppig wuchernden Sträuchern herab.
Rechts, wo die Wand des Gemachs ganz intackt ge-
blieben war, sah man eine niedrige, mit der Hand
leicht zu erreichende Nische, in der sich sonst wahr-
scheinlich ein Heiliger befunden, jetzt aber nur ein
Todtenschädel stand, mit den leeren Augenhöhlen
grade auf die schöne Aussicht gerichtet, die sich ihm
gegenüber ausbreitete, als erfreue ihr Glanz und
frisches Leben selbst den Todten noch! Indem auch
ich derselben Richtung von Neuem folgte, entdeckte
ich, dicht über dem Boden, ein bisher übersehenes

men, deren Gerippe ſie, ſobald der Platz fehlt, ohne
Umſtände herauswerfen. Daher ſind alle dieſe Rui-
nen mehr oder weniger mit Haufen von wild unter-
einander gewürfelten Schädeln und Gebeinen ange-
füllt, die nur zuweilen theilweiſe von den Kindern,
als Spielwerk, in Pyramiden oder andere Formen
aufgeſtellt werden. Ich erſtieg, über ſolche Steine
und Knochen mich emporarbeitend, ein verfallnes Ge-
mach des zweiten Stockes, und weidete mich an dem
fremdartigen romantiſchen Gemälde. Zu meiner Lin-
ken war die Mauer hinabgeſunken, und öffnete dem
Blick die ſchöne Landſchaft, die den See umgiebt, mit
hellgrünem Vorgrunde, dem Gebürge in der Ferne,
und ſeitwärts dem Schloſſe und den hohen Bäumen
des Parkes der Macnamara’s, welche hier reſidiren.
Vor mir ſtand noch ganz wohlerhalten ein vortreff-
lich gearbeitetes, wie mit point d’Alençon eingefaßtes
Fenſter; über ihm hingen, unzugänglich auf der frei-
ſtehenden Mauer, ganze Trauben ſchwarzblauer Brom-
beeren von den üppig wuchernden Sträuchern herab.
Rechts, wo die Wand des Gemachs ganz intackt ge-
blieben war, ſah man eine niedrige, mit der Hand
leicht zu erreichende Niſche, in der ſich ſonſt wahr-
ſcheinlich ein Heiliger befunden, jetzt aber nur ein
Todtenſchädel ſtand, mit den leeren Augenhöhlen
grade auf die ſchöne Ausſicht gerichtet, die ſich ihm
gegenüber ausbreitete, als erfreue ihr Glanz und
friſches Leben ſelbſt den Todten noch! Indem auch
ich derſelben Richtung von Neuem folgte, entdeckte
ich, dicht über dem Boden, ein bisher überſehenes

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0271" n="247"/>
men, deren Gerippe &#x017F;ie, &#x017F;obald der Platz fehlt, ohne<lb/>
Um&#x017F;tände herauswerfen. Daher &#x017F;ind alle die&#x017F;e Rui-<lb/>
nen mehr oder weniger mit Haufen von wild unter-<lb/>
einander gewürfelten Schädeln und Gebeinen ange-<lb/>
füllt, die nur zuweilen theilwei&#x017F;e von den Kindern,<lb/>
als Spielwerk, in Pyramiden oder andere Formen<lb/>
aufge&#x017F;tellt werden. Ich er&#x017F;tieg, über &#x017F;olche Steine<lb/>
und Knochen mich emporarbeitend, ein verfallnes Ge-<lb/>
mach des zweiten Stockes, und weidete mich an dem<lb/>
fremdartigen romanti&#x017F;chen Gemälde. Zu meiner Lin-<lb/>
ken war die Mauer hinabge&#x017F;unken, und öffnete dem<lb/>
Blick die &#x017F;chöne Land&#x017F;chaft, die den See umgiebt, mit<lb/>
hellgrünem Vorgrunde, dem Gebürge in der Ferne,<lb/>
und &#x017F;eitwärts dem Schlo&#x017F;&#x017F;e und den hohen Bäumen<lb/>
des Parkes der Macnamara&#x2019;s, welche hier re&#x017F;idiren.<lb/>
Vor mir &#x017F;tand noch ganz wohlerhalten ein vortreff-<lb/>
lich gearbeitetes, wie mit <hi rendition="#aq">point d&#x2019;Alençon</hi> eingefaßtes<lb/>
Fen&#x017F;ter; über ihm hingen, unzugänglich auf der frei-<lb/>
&#x017F;tehenden Mauer, ganze Trauben &#x017F;chwarzblauer Brom-<lb/>
beeren von den üppig wuchernden Sträuchern herab.<lb/>
Rechts, wo die Wand des Gemachs ganz intackt ge-<lb/>
blieben war, &#x017F;ah man eine niedrige, mit der Hand<lb/>
leicht zu erreichende Ni&#x017F;che, in der &#x017F;ich &#x017F;on&#x017F;t wahr-<lb/>
&#x017F;cheinlich ein Heiliger befunden, jetzt aber nur ein<lb/>
Todten&#x017F;chädel &#x017F;tand, mit den leeren Augenhöhlen<lb/>
grade auf die &#x017F;chöne Aus&#x017F;icht gerichtet, die &#x017F;ich ihm<lb/>
gegenüber ausbreitete, als erfreue ihr Glanz und<lb/>
fri&#x017F;ches Leben &#x017F;elb&#x017F;t den Todten noch! Indem auch<lb/>
ich der&#x017F;elben Richtung von Neuem <choice><sic>&#x017F;olgte</sic><corr>folgte</corr></choice>, entdeckte<lb/>
ich, dicht über dem Boden, ein bisher über&#x017F;ehenes<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[247/0271] men, deren Gerippe ſie, ſobald der Platz fehlt, ohne Umſtände herauswerfen. Daher ſind alle dieſe Rui- nen mehr oder weniger mit Haufen von wild unter- einander gewürfelten Schädeln und Gebeinen ange- füllt, die nur zuweilen theilweiſe von den Kindern, als Spielwerk, in Pyramiden oder andere Formen aufgeſtellt werden. Ich erſtieg, über ſolche Steine und Knochen mich emporarbeitend, ein verfallnes Ge- mach des zweiten Stockes, und weidete mich an dem fremdartigen romantiſchen Gemälde. Zu meiner Lin- ken war die Mauer hinabgeſunken, und öffnete dem Blick die ſchöne Landſchaft, die den See umgiebt, mit hellgrünem Vorgrunde, dem Gebürge in der Ferne, und ſeitwärts dem Schloſſe und den hohen Bäumen des Parkes der Macnamara’s, welche hier reſidiren. Vor mir ſtand noch ganz wohlerhalten ein vortreff- lich gearbeitetes, wie mit point d’Alençon eingefaßtes Fenſter; über ihm hingen, unzugänglich auf der frei- ſtehenden Mauer, ganze Trauben ſchwarzblauer Brom- beeren von den üppig wuchernden Sträuchern herab. Rechts, wo die Wand des Gemachs ganz intackt ge- blieben war, ſah man eine niedrige, mit der Hand leicht zu erreichende Niſche, in der ſich ſonſt wahr- ſcheinlich ein Heiliger befunden, jetzt aber nur ein Todtenſchädel ſtand, mit den leeren Augenhöhlen grade auf die ſchöne Ausſicht gerichtet, die ſich ihm gegenüber ausbreitete, als erfreue ihr Glanz und friſches Leben ſelbſt den Todten noch! Indem auch ich derſelben Richtung von Neuem folgte, entdeckte ich, dicht über dem Boden, ein bisher überſehenes

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe01_1830
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe01_1830/271
Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 1. München, 1830, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe01_1830/271>, abgerufen am 27.04.2024.