Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Pichler, Adolf: Der Flüchtling. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 13. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 233–318. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

ginnt der Wald und bedeckt fast ohne Unterbrechung den Abhang, der hier sanfter ausläuft. Die Hochfläche des Unutz ist durch eine Furche fast in der Mitte gespalten; an dieser Stelle beginnt eine Schlucht, die sich allmählich zu einem Thälchen vertieft und ausweitet und selbst noch den Gürtel der Föhren und Tannen durchschneidet. Rechts und links erheben sich pralle Wände, der Boden ist von Steintrümmern übersät, im Schatten der Vorsprünge liegt noch im August grobkörniger Schnee als letzter Rest der Lawinen, welche hier niederbrausen. Willst du Einsiedler werden, hier ist ein Plätzchen, wo dich niemand stört, du hörst nichts als den Pfiff der Schneefinken, das Aechzen der Jochdohle und den heisern Schrei des Alpenadlers, der auf Beute ausfliegt, aber du darfst nicht zittern vor dem Blitze, der neben dir in die kahlen Felsenschädel schlägt, vor dem Donner der Lawinen, vor dem Sausen des Sturmes, welcher Felsenblöcke von den Wänden losreißt und auf die Bäume tief unten schleudert. Hier und da klingt das Glöckchen von Steinberg und mahnt dich, daß über dir derselbe Herrgott walte, wie über den Menschen drunten im Thal, deren Gesellschaft du unmuthig geflohen. Durch diese Schlucht vom Grat des Unutz den Weg nach Steinberg zu suchen, fällt nicht einmal Sennern ein; wenn ich es unternahm, so geschah es wahrlich nicht, um nachträglich im Wirthshaus ein Abenteuer zu erzählen, sondern um Petrefacten zu holen. Den Plan dazu hatte ich schon längst

ginnt der Wald und bedeckt fast ohne Unterbrechung den Abhang, der hier sanfter ausläuft. Die Hochfläche des Unutz ist durch eine Furche fast in der Mitte gespalten; an dieser Stelle beginnt eine Schlucht, die sich allmählich zu einem Thälchen vertieft und ausweitet und selbst noch den Gürtel der Föhren und Tannen durchschneidet. Rechts und links erheben sich pralle Wände, der Boden ist von Steintrümmern übersät, im Schatten der Vorsprünge liegt noch im August grobkörniger Schnee als letzter Rest der Lawinen, welche hier niederbrausen. Willst du Einsiedler werden, hier ist ein Plätzchen, wo dich niemand stört, du hörst nichts als den Pfiff der Schneefinken, das Aechzen der Jochdohle und den heisern Schrei des Alpenadlers, der auf Beute ausfliegt, aber du darfst nicht zittern vor dem Blitze, der neben dir in die kahlen Felsenschädel schlägt, vor dem Donner der Lawinen, vor dem Sausen des Sturmes, welcher Felsenblöcke von den Wänden losreißt und auf die Bäume tief unten schleudert. Hier und da klingt das Glöckchen von Steinberg und mahnt dich, daß über dir derselbe Herrgott walte, wie über den Menschen drunten im Thal, deren Gesellschaft du unmuthig geflohen. Durch diese Schlucht vom Grat des Unutz den Weg nach Steinberg zu suchen, fällt nicht einmal Sennern ein; wenn ich es unternahm, so geschah es wahrlich nicht, um nachträglich im Wirthshaus ein Abenteuer zu erzählen, sondern um Petrefacten zu holen. Den Plan dazu hatte ich schon längst

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0008"/>
ginnt der Wald und bedeckt fast ohne                Unterbrechung den Abhang, der hier sanfter ausläuft. Die Hochfläche des Unutz ist                durch eine Furche fast in der Mitte gespalten; an dieser Stelle beginnt eine                Schlucht, die sich allmählich zu einem Thälchen vertieft und ausweitet und selbst                noch den Gürtel der Föhren und Tannen durchschneidet. Rechts und links erheben sich                pralle Wände, der Boden ist von Steintrümmern übersät, im Schatten der Vorsprünge                liegt noch im August grobkörniger Schnee als letzter Rest der Lawinen, welche hier                niederbrausen. Willst du Einsiedler werden, hier ist ein Plätzchen, wo dich niemand                stört, du hörst nichts als den Pfiff der Schneefinken, das Aechzen der Jochdohle und                den heisern Schrei des Alpenadlers, der auf Beute ausfliegt, aber du darfst nicht                zittern vor dem Blitze, der neben dir in die kahlen Felsenschädel schlägt, vor dem                Donner der Lawinen, vor dem Sausen des Sturmes, welcher Felsenblöcke von den Wänden                losreißt und auf die Bäume tief unten schleudert. Hier und da klingt das Glöckchen                von Steinberg und mahnt dich, daß über dir derselbe Herrgott walte, wie über den                Menschen drunten im Thal, deren Gesellschaft du unmuthig geflohen. Durch diese                Schlucht vom Grat des Unutz den Weg nach Steinberg zu suchen, fällt nicht einmal                Sennern ein; wenn ich es unternahm, so geschah es wahrlich nicht, um nachträglich im                Wirthshaus ein Abenteuer zu erzählen, sondern um Petrefacten zu holen. Den Plan dazu                hatte ich schon längst<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0008] ginnt der Wald und bedeckt fast ohne Unterbrechung den Abhang, der hier sanfter ausläuft. Die Hochfläche des Unutz ist durch eine Furche fast in der Mitte gespalten; an dieser Stelle beginnt eine Schlucht, die sich allmählich zu einem Thälchen vertieft und ausweitet und selbst noch den Gürtel der Föhren und Tannen durchschneidet. Rechts und links erheben sich pralle Wände, der Boden ist von Steintrümmern übersät, im Schatten der Vorsprünge liegt noch im August grobkörniger Schnee als letzter Rest der Lawinen, welche hier niederbrausen. Willst du Einsiedler werden, hier ist ein Plätzchen, wo dich niemand stört, du hörst nichts als den Pfiff der Schneefinken, das Aechzen der Jochdohle und den heisern Schrei des Alpenadlers, der auf Beute ausfliegt, aber du darfst nicht zittern vor dem Blitze, der neben dir in die kahlen Felsenschädel schlägt, vor dem Donner der Lawinen, vor dem Sausen des Sturmes, welcher Felsenblöcke von den Wänden losreißt und auf die Bäume tief unten schleudert. Hier und da klingt das Glöckchen von Steinberg und mahnt dich, daß über dir derselbe Herrgott walte, wie über den Menschen drunten im Thal, deren Gesellschaft du unmuthig geflohen. Durch diese Schlucht vom Grat des Unutz den Weg nach Steinberg zu suchen, fällt nicht einmal Sennern ein; wenn ich es unternahm, so geschah es wahrlich nicht, um nachträglich im Wirthshaus ein Abenteuer zu erzählen, sondern um Petrefacten zu holen. Den Plan dazu hatte ich schon längst

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-23T13:06:45Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-23T13:06:45Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/pichler_fluechtling_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/pichler_fluechtling_1910/8
Zitationshilfe: Pichler, Adolf: Der Flüchtling. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 13. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 233–318. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pichler_fluechtling_1910/8>, abgerufen am 19.04.2024.