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Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743.

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Zwey hundert Maximen
schweifende Leidenschaften in behörigen Schran-
ken.
CLXIII. Wie ein wachsamer Soldate, wenn
er im Felde auf dem Posten stehet, des Nachts alle
Vorübergehende anschreyet, und, wenn es ein
Feind ist, gleich Feuer giebet: Also examinirt
einer, der die Gemüths-Gegenwart besitzet,
alle seine aus- und eingehende Gedanken. Will
sich nun eine Leidenschaft gegen die Vernunft
empören: So giebt er gleich Feuer darauf. Er
hält die aufsteigende Wallung des Gemüthes in
Schranken. Er besitzet sich selbst, und läuft
mit einem überdenkenden Urtheile allen seinen
aufsteigenden Affecten auf dem Fuße nach. Ue-
bereilt ihn nun ja etwa der Zorn, oder eine an-
dere Leidenschaft: So recolligirt er sich doch bald
wieder. Er dämpfet die Gemüths-Entzün-
dung
durch Vorstellung, daß er Meister über
sich selbst seyn, auch andrer Schwachheiten nicht
so hoch empfinden, noch sich über andrer Ver-
gehungen zu sehr entrüsten müsse.
CLXIV. Ohne die Gemüths-Gegenwart (Pre-
sence d'Esprit)
wird einer auch an denen ihm
erzeigten Gutthaten keinen rechten Geschmack
finden. Ein leichtes Gemüth vergisset der
Wohlthat bald, und achtet solche wenig. Ein
erkenntliches Gemüth aber hat solche in stetem
Andenken, und verbindet damit einen Trieb der
Dankbarkeit. Die Wohlthaten, die einem
dankbaren Gemüthe erzeiget werden, sind bey
ihm, als in einer Schatzkammer, verwahret.
Nichts
Zwey hundert Maximen
ſchweifende Leidenſchaften in behoͤrigen Schran-
ken.
CLXIII. Wie ein wachſamer Soldate, wenn
er im Felde auf dem Poſten ſtehet, des Nachts alle
Voruͤbergehende anſchreyet, und, wenn es ein
Feind iſt, gleich Feuer giebet: Alſo examinirt
einer, der die Gemuͤths-Gegenwart beſitzet,
alle ſeine aus- und eingehende Gedanken. Will
ſich nun eine Leidenſchaft gegen die Vernunft
empoͤren: So giebt er gleich Feuer darauf. Er
haͤlt die aufſteigende Wallung des Gemuͤthes in
Schranken. Er beſitzet ſich ſelbſt, und laͤuft
mit einem uͤberdenkenden Urtheile allen ſeinen
aufſteigenden Affecten auf dem Fuße nach. Ue-
bereilt ihn nun ja etwa der Zorn, oder eine an-
dere Leidenſchaft: So recolligirt er ſich doch bald
wieder. Er daͤmpfet die Gemuͤths-Entzuͤn-
dung
durch Vorſtellung, daß er Meiſter uͤber
ſich ſelbſt ſeyn, auch andrer Schwachheiten nicht
ſo hoch empfinden, noch ſich uͤber andrer Ver-
gehungen zu ſehr entruͤſten muͤſſe.
CLXIV. Ohne die Gemuͤths-Gegenwart (Pré-
ſence d’Eſprit)
wird einer auch an denen ihm
erzeigten Gutthaten keinen rechten Geſchmack
finden. Ein leichtes Gemuͤth vergiſſet der
Wohlthat bald, und achtet ſolche wenig. Ein
erkenntliches Gemuͤth aber hat ſolche in ſtetem
Andenken, und verbindet damit einen Trieb der
Dankbarkeit. Die Wohlthaten, die einem
dankbaren Gemuͤthe erzeiget werden, ſind bey
ihm, als in einer Schatzkammer, verwahret.
Nichts
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[240/0248] Zwey hundert Maximen ſchweifende Leidenſchaften in behoͤrigen Schran- ken. CLXIII. Wie ein wachſamer Soldate, wenn er im Felde auf dem Poſten ſtehet, des Nachts alle Voruͤbergehende anſchreyet, und, wenn es ein Feind iſt, gleich Feuer giebet: Alſo examinirt einer, der die Gemuͤths-Gegenwart beſitzet, alle ſeine aus- und eingehende Gedanken. Will ſich nun eine Leidenſchaft gegen die Vernunft empoͤren: So giebt er gleich Feuer darauf. Er haͤlt die aufſteigende Wallung des Gemuͤthes in Schranken. Er beſitzet ſich ſelbſt, und laͤuft mit einem uͤberdenkenden Urtheile allen ſeinen aufſteigenden Affecten auf dem Fuße nach. Ue- bereilt ihn nun ja etwa der Zorn, oder eine an- dere Leidenſchaft: So recolligirt er ſich doch bald wieder. Er daͤmpfet die Gemuͤths-Entzuͤn- dung durch Vorſtellung, daß er Meiſter uͤber ſich ſelbſt ſeyn, auch andrer Schwachheiten nicht ſo hoch empfinden, noch ſich uͤber andrer Ver- gehungen zu ſehr entruͤſten muͤſſe. CLXIV. Ohne die Gemuͤths-Gegenwart (Pré- ſence d’Eſprit) wird einer auch an denen ihm erzeigten Gutthaten keinen rechten Geſchmack finden. Ein leichtes Gemuͤth vergiſſet der Wohlthat bald, und achtet ſolche wenig. Ein erkenntliches Gemuͤth aber hat ſolche in ſtetem Andenken, und verbindet damit einen Trieb der Dankbarkeit. Die Wohlthaten, die einem dankbaren Gemuͤthe erzeiget werden, ſind bey ihm, als in einer Schatzkammer, verwahret. Nichts

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Zitationshilfe: Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/philippi_reimschmiedekunst_1743/248>, abgerufen am 28.04.2024.