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Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743.

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vom gesunden Witze, etc.
schrockenen Muthe, die Verhängnisse der alles
lenkenden Vorsehung getrost über sich ergehen
zu lassen. Ein Verzagter hingegen glaubt ent-
weder keine göttliche Vorsehung, oder aber,
weil er lasterhaft ist, fürchtet er sich vor der
Strafe der erzürnten Gerechtigkeit. Jedoch ein
Herz, das da weiß einen gnädigen Gott zu ha-
ben, wird in widrigen Zufällen die Gemüths-
Gegenwart nicht fallen lassen, und also weder
kleinmüthig seyn, um nicht das Regiment der
Vorsehung zu tadeln, noch verwegen, um den
Character der Gottesfürchtigen nicht zu pro-
stituiren.
CLXI. Die Gemüths-Gegenwart (Pre-
sence d'Esprit)
ist eine Universal-Tugend,
ohne welche man zu keinem erhabenen Geschmacke
in keiner Wissenschaft gelangen kann. Sie
begreifet eine schnelle Gemüths-Fertigkeit, über
sich selbst zu reflectiren. Man ist alsdann gleich-
sam ein Aufmerker seiner selbst, ein Zeuge von
beschehener genauer Untersuchung der Wahrheit,
und ein unpartheyischer Richter, daß man solche
gefunden.
CLXII. Die Gemüths-Gegenwart ma-
chet, daß man alle seine Gedanken, Reden und
Thaten am Zügel, auch gleichsam am Schnür-
gen hat, so daß man im Stande ist, aus dem
Stegereif einen schönen Einfall, guten Rath
und löbliches Unternehmen auszusinnen. Man
beherrschet sich durch die Gemüths-Gegenwart
selber, und hält vermittelst derselben alle aus-
schwei-
vom geſunden Witze, ꝛc.
ſchrockenen Muthe, die Verhaͤngniſſe der alles
lenkenden Vorſehung getroſt uͤber ſich ergehen
zu laſſen. Ein Verzagter hingegen glaubt ent-
weder keine goͤttliche Vorſehung, oder aber,
weil er laſterhaft iſt, fuͤrchtet er ſich vor der
Strafe der erzuͤrnten Gerechtigkeit. Jedoch ein
Herz, das da weiß einen gnaͤdigen Gott zu ha-
ben, wird in widrigen Zufaͤllen die Gemuͤths-
Gegenwart nicht fallen laſſen, und alſo weder
kleinmuͤthig ſeyn, um nicht das Regiment der
Vorſehung zu tadeln, noch verwegen, um den
Character der Gottesfuͤrchtigen nicht zu pro-
ſtituiren.
CLXI. Die Gemuͤths-Gegenwart (Pré-
ſence d’Eſprit)
iſt eine Univerſal-Tugend,
ohne welche man zu keinem erhabenen Geſchmacke
in keiner Wiſſenſchaft gelangen kann. Sie
begreifet eine ſchnelle Gemuͤths-Fertigkeit, uͤber
ſich ſelbſt zu reflectiren. Man iſt alsdann gleich-
ſam ein Aufmerker ſeiner ſelbſt, ein Zeuge von
beſchehener genauer Unterſuchung der Wahrheit,
und ein unpartheyiſcher Richter, daß man ſolche
gefunden.
CLXII. Die Gemuͤths-Gegenwart ma-
chet, daß man alle ſeine Gedanken, Reden und
Thaten am Zuͤgel, auch gleichſam am Schnuͤr-
gen hat, ſo daß man im Stande iſt, aus dem
Stegereif einen ſchoͤnen Einfall, guten Rath
und loͤbliches Unternehmen auszuſinnen. Man
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[239/0247] vom geſunden Witze, ꝛc. ſchrockenen Muthe, die Verhaͤngniſſe der alles lenkenden Vorſehung getroſt uͤber ſich ergehen zu laſſen. Ein Verzagter hingegen glaubt ent- weder keine goͤttliche Vorſehung, oder aber, weil er laſterhaft iſt, fuͤrchtet er ſich vor der Strafe der erzuͤrnten Gerechtigkeit. Jedoch ein Herz, das da weiß einen gnaͤdigen Gott zu ha- ben, wird in widrigen Zufaͤllen die Gemuͤths- Gegenwart nicht fallen laſſen, und alſo weder kleinmuͤthig ſeyn, um nicht das Regiment der Vorſehung zu tadeln, noch verwegen, um den Character der Gottesfuͤrchtigen nicht zu pro- ſtituiren. CLXI. Die Gemuͤths-Gegenwart (Pré- ſence d’Eſprit) iſt eine Univerſal-Tugend, ohne welche man zu keinem erhabenen Geſchmacke in keiner Wiſſenſchaft gelangen kann. Sie begreifet eine ſchnelle Gemuͤths-Fertigkeit, uͤber ſich ſelbſt zu reflectiren. Man iſt alsdann gleich- ſam ein Aufmerker ſeiner ſelbſt, ein Zeuge von beſchehener genauer Unterſuchung der Wahrheit, und ein unpartheyiſcher Richter, daß man ſolche gefunden. CLXII. Die Gemuͤths-Gegenwart ma- chet, daß man alle ſeine Gedanken, Reden und Thaten am Zuͤgel, auch gleichſam am Schnuͤr- gen hat, ſo daß man im Stande iſt, aus dem Stegereif einen ſchoͤnen Einfall, guten Rath und loͤbliches Unternehmen auszuſinnen. Man beherrſchet ſich durch die Gemuͤths-Gegenwart ſelber, und haͤlt vermittelſt derſelben alle aus- ſchwei-

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Zitationshilfe: Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/philippi_reimschmiedekunst_1743/247>, abgerufen am 27.04.2024.