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Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743.

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Zwey hundert Maximen
strecket sich auch so weit, daß man nach solcher
keinen Geschmack an liederlicher Gesellschaft,
Saufgelachen, Lärmen, Unzucht, Schwächung
der Jungfrauen und Ehebruch findet. Wer
solche Dinge für Kurzweil oder Galanterie hält,
hat noch nicht einmal den Geschmack von dem,
was ein honnet-homme sey.
CLIX. Die Unempfindlichkeit der stoischen
Weltweisen, nach welcher man alle schmerzhaf-
te Empfindungen nichts achten, und die Natur
gegen alle widrige Zufälle verhärten soll, ist eine
Anzeige eines gar rauhen Geschmacks. Wer
von keinem Zufalle, der ihm selbst begegnet, ge-
rühret
wird, ist nothwendig noch viel härter
und unempfindlicher, wenn andern dergleichen
schmerzliches widerfähret. Ein solcher Hartkopf
aber schicket sich besser in die Wüsten, daß er
versuche, sich von wilden Thieren verletzen zu
lassen, und seinen Schmerz zu verbeissen, als
daß er im gemeinen Wesen die Menschen in un-
empfindliche Steine verwandeln wollte. Es
sind auch solche stoische Weltweise schlechte Aus-
über ihrer austeren Moral. Man mache nur
Mine, daß man sich über sie aufhalte, sie wer-
den bald darüber empfindlich genug werden.
CLX. Weder die Tollkühnen, noch die Ver-
zagten,
haben einen gesetzten Geschmack. Der
Gefahr, der man entgehen kann, sich unbedacht-
samer Weise selbst in den Wurf zu geben, ist
keine Herzhaftigkeit, sondern Verwegenheit.
Die wahre Herzhaftigkeit bestehet in dem uner-
schrockenen
Zwey hundert Maximen
ſtrecket ſich auch ſo weit, daß man nach ſolcher
keinen Geſchmack an liederlicher Geſellſchaft,
Saufgelachen, Laͤrmen, Unzucht, Schwaͤchung
der Jungfrauen und Ehebruch findet. Wer
ſolche Dinge fuͤr Kurzweil oder Galanterie haͤlt,
hat noch nicht einmal den Geſchmack von dem,
was ein honnêt-homme ſey.
CLIX. Die Unempfindlichkeit der ſtoiſchen
Weltweiſen, nach welcher man alle ſchmerzhaf-
te Empfindungen nichts achten, und die Natur
gegen alle widrige Zufaͤlle verhaͤrten ſoll, iſt eine
Anzeige eines gar rauhen Geſchmacks. Wer
von keinem Zufalle, der ihm ſelbſt begegnet, ge-
ruͤhret
wird, iſt nothwendig noch viel haͤrter
und unempfindlicher, wenn andern dergleichen
ſchmerzliches widerfaͤhret. Ein ſolcher Hartkopf
aber ſchicket ſich beſſer in die Wuͤſten, daß er
verſuche, ſich von wilden Thieren verletzen zu
laſſen, und ſeinen Schmerz zu verbeiſſen, als
daß er im gemeinen Weſen die Menſchen in un-
empfindliche Steine verwandeln wollte. Es
ſind auch ſolche ſtoiſche Weltweiſe ſchlechte Aus-
uͤber ihrer auſtéren Moral. Man mache nur
Mine, daß man ſich uͤber ſie aufhalte, ſie wer-
den bald daruͤber empfindlich genug werden.
CLX. Weder die Tollkuͤhnen, noch die Ver-
zagten,
haben einen geſetzten Geſchmack. Der
Gefahr, der man entgehen kann, ſich unbedacht-
ſamer Weiſe ſelbſt in den Wurf zu geben, iſt
keine Herzhaftigkeit, ſondern Verwegenheit.
Die wahre Herzhaftigkeit beſtehet in dem uner-
ſchrockenen
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[238/0246] Zwey hundert Maximen ſtrecket ſich auch ſo weit, daß man nach ſolcher keinen Geſchmack an liederlicher Geſellſchaft, Saufgelachen, Laͤrmen, Unzucht, Schwaͤchung der Jungfrauen und Ehebruch findet. Wer ſolche Dinge fuͤr Kurzweil oder Galanterie haͤlt, hat noch nicht einmal den Geſchmack von dem, was ein honnêt-homme ſey. CLIX. Die Unempfindlichkeit der ſtoiſchen Weltweiſen, nach welcher man alle ſchmerzhaf- te Empfindungen nichts achten, und die Natur gegen alle widrige Zufaͤlle verhaͤrten ſoll, iſt eine Anzeige eines gar rauhen Geſchmacks. Wer von keinem Zufalle, der ihm ſelbſt begegnet, ge- ruͤhret wird, iſt nothwendig noch viel haͤrter und unempfindlicher, wenn andern dergleichen ſchmerzliches widerfaͤhret. Ein ſolcher Hartkopf aber ſchicket ſich beſſer in die Wuͤſten, daß er verſuche, ſich von wilden Thieren verletzen zu laſſen, und ſeinen Schmerz zu verbeiſſen, als daß er im gemeinen Weſen die Menſchen in un- empfindliche Steine verwandeln wollte. Es ſind auch ſolche ſtoiſche Weltweiſe ſchlechte Aus- uͤber ihrer auſtéren Moral. Man mache nur Mine, daß man ſich uͤber ſie aufhalte, ſie wer- den bald daruͤber empfindlich genug werden. CLX. Weder die Tollkuͤhnen, noch die Ver- zagten, haben einen geſetzten Geſchmack. Der Gefahr, der man entgehen kann, ſich unbedacht- ſamer Weiſe ſelbſt in den Wurf zu geben, iſt keine Herzhaftigkeit, ſondern Verwegenheit. Die wahre Herzhaftigkeit beſtehet in dem uner- ſchrockenen

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Zitationshilfe: Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/philippi_reimschmiedekunst_1743/246>, abgerufen am 28.04.2024.