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Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743.

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Zwey hundert Maximen
wenn sie allenthalben blinden Gehorsam for-
dern, oder Aussprüche thun, ohne die geringste
Ursache anzugeben. Der allerhöchste Gott, der
doch am befugtesten wäre, einen blinden Ge-
horsam zu fordern, suchet gleichwol die Men-
schen auch durch genugsame Gründe zu über-
führen.
XLVI. Das aber weichet von dem guten
Geschmacke eines Gesetzgebers
ab, wenn er,
in denen Gesetzen selbst, viel raisonniret; denn
das sollte er denen Gesetz-Lehrern überlassen.
Sein Character aber ist, zu gebieten, und nicht,
zu disputiren.
XLVII. Wenn sich ein Richter in der höch-
sten Jnstanz nicht recht sicher weiß, daß seine
Ausspruchs-Motiven in sich solide sind: So
thut er besser, bloß den Ausspruch zu thun, als
rationes decidendi anzugeben. Denn manch-
mal ist der Ausspruch in sich richtig, obwol nicht
aus den angegebenen rationibus decidendi.
XLVIII. Nach dem Logischen Geschmacke
hat jeder Satz seine innerliche Wahrheit und
Gewißheit. Daher fällt er nicht allezeit über
den Haufen, wenn gleich die Raison, daraus er
hergeleitet worden, falsch ist. Aber nach dem
richterlichen und Advocaten-Geschmacke darf
man das in sich richtigste Urthel als verwerflich
angeben, wenn es auf unrichtigen rationibus
decidendi
beruhet.
XLIX. Jede Wissenschaft hat ihre eigene
Art des Vortrages. Wer diesen Character
nicht
Zwey hundert Maximen
wenn ſie allenthalben blinden Gehorſam for-
dern, oder Ausſpruͤche thun, ohne die geringſte
Urſache anzugeben. Der allerhoͤchſte Gott, der
doch am befugteſten waͤre, einen blinden Ge-
horſam zu fordern, ſuchet gleichwol die Men-
ſchen auch durch genugſame Gruͤnde zu uͤber-
fuͤhren.
XLVI. Das aber weichet von dem guten
Geſchmacke eines Geſetzgebers
ab, wenn er,
in denen Geſetzen ſelbſt, viel raiſonniret; denn
das ſollte er denen Geſetz-Lehrern uͤberlaſſen.
Sein Character aber iſt, zu gebieten, und nicht,
zu disputiren.
XLVII. Wenn ſich ein Richter in der hoͤch-
ſten Jnſtanz nicht recht ſicher weiß, daß ſeine
Ausſpruchs-Motiven in ſich ſolide ſind: So
thut er beſſer, bloß den Ausſpruch zu thun, als
rationes decidendi anzugeben. Denn manch-
mal iſt der Ausſpruch in ſich richtig, obwol nicht
aus den angegebenen rationibus decidendi.
XLVIII. Nach dem Logiſchen Geſchmacke
hat jeder Satz ſeine innerliche Wahrheit und
Gewißheit. Daher faͤllt er nicht allezeit uͤber
den Haufen, wenn gleich die Raiſon, daraus er
hergeleitet worden, falſch iſt. Aber nach dem
richterlichen und Advocaten-Geſchmacke darf
man das in ſich richtigſte Urthel als verwerflich
angeben, wenn es auf unrichtigen rationibus
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beruhet.
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Art des Vortrages. Wer dieſen Character
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[198/0206] Zwey hundert Maximen wenn ſie allenthalben blinden Gehorſam for- dern, oder Ausſpruͤche thun, ohne die geringſte Urſache anzugeben. Der allerhoͤchſte Gott, der doch am befugteſten waͤre, einen blinden Ge- horſam zu fordern, ſuchet gleichwol die Men- ſchen auch durch genugſame Gruͤnde zu uͤber- fuͤhren. XLVI. Das aber weichet von dem guten Geſchmacke eines Geſetzgebers ab, wenn er, in denen Geſetzen ſelbſt, viel raiſonniret; denn das ſollte er denen Geſetz-Lehrern uͤberlaſſen. Sein Character aber iſt, zu gebieten, und nicht, zu disputiren. XLVII. Wenn ſich ein Richter in der hoͤch- ſten Jnſtanz nicht recht ſicher weiß, daß ſeine Ausſpruchs-Motiven in ſich ſolide ſind: So thut er beſſer, bloß den Ausſpruch zu thun, als rationes decidendi anzugeben. Denn manch- mal iſt der Ausſpruch in ſich richtig, obwol nicht aus den angegebenen rationibus decidendi. XLVIII. Nach dem Logiſchen Geſchmacke hat jeder Satz ſeine innerliche Wahrheit und Gewißheit. Daher faͤllt er nicht allezeit uͤber den Haufen, wenn gleich die Raiſon, daraus er hergeleitet worden, falſch iſt. Aber nach dem richterlichen und Advocaten-Geſchmacke darf man das in ſich richtigſte Urthel als verwerflich angeben, wenn es auf unrichtigen rationibus decidendi beruhet. XLIX. Jede Wiſſenſchaft hat ihre eigene Art des Vortrages. Wer dieſen Character nicht

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Zitationshilfe: Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/philippi_reimschmiedekunst_1743/206>, abgerufen am 28.04.2024.