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Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743.

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Zwey hundert Maximen
XXIV. Ein scharfes iudicium findet mehr
Geschmack
an soliden, und durch starke Be-
weise oder Vernunfts-Gründe vestgestellten
Wahrheiten, als an lebhaften Einfällen eines
aufgeweckten Kopfes.
XXV. Wer sein Gedächtniß gern mit Auf-
hebung solcher Gedanken bemühet, die andere
gehabt, der wird mehr Geschmack an Lesung
fremder Schriften finden, als seinen eigenen Ge-
danken nachzuspüren.
XXVI. Einer, der von Natur eine starke
Jmagination hat, wird selten an solchen Wahr-
heiten einen Geschmack finden, die per intel-
lectum purum
und durch abstracte Jdeen müs-
sen begriffen werden. Er wird überall Bilder,
und was Sinnliches, suchen; wo er das nicht
antrifft, ist es seinem natürlichen Geschmacke
entgegen.
XXVII. Solche glückseligen Köpfe, die
einen sehr lebhaften Witz, dabey aber auch durch-
dringendes iudicium und starke Jmagination
haben, wie z. E. Leibnitz, Wolf, Lock, Neu-
ton, Cartesius etc.
besitzen einen hohen und sich
weit erstreckenden Geschmack.
XXVIII. Ein Gemüth, das über alle ge-
meine Vorurtheile erhaben
ist, und nichts für
wahr oder gut annimt, als was es durch völli-
ge Ueberzeugung und übereinstimmende Erfah-
rung dafür erkannt hat, besitzet einen hohen oder
ungemeinen Geschmack.
XXIX. Ein Gemüth, das seine eigene wah-
re
Zwey hundert Maximen
XXIV. Ein ſcharfes iudicium findet mehr
Geſchmack
an ſoliden, und durch ſtarke Be-
weiſe oder Vernunfts-Gruͤnde veſtgeſtellten
Wahrheiten, als an lebhaften Einfaͤllen eines
aufgeweckten Kopfes.
XXV. Wer ſein Gedaͤchtniß gern mit Auf-
hebung ſolcher Gedanken bemuͤhet, die andere
gehabt, der wird mehr Geſchmack an Leſung
fremder Schriften finden, als ſeinen eigenen Ge-
danken nachzuſpuͤren.
XXVI. Einer, der von Natur eine ſtarke
Jmagination hat, wird ſelten an ſolchen Wahr-
heiten einen Geſchmack finden, die per intel-
lectum purum
und durch abſtracte Jdeen muͤſ-
ſen begriffen werden. Er wird uͤberall Bilder,
und was Sinnliches, ſuchen; wo er das nicht
antrifft, iſt es ſeinem natuͤrlichen Geſchmacke
entgegen.
XXVII. Solche gluͤckſeligen Koͤpfe, die
einen ſehr lebhaften Witz, dabey aber auch durch-
dringendes iudicium und ſtarke Jmagination
haben, wie z. E. Leibnitz, Wolf, Lock, Neu-
ton, Carteſius ꝛc.
beſitzen einen hohen und ſich
weit erſtreckenden Geſchmack.
XXVIII. Ein Gemuͤth, das uͤber alle ge-
meine Vorurtheile erhaben
iſt, und nichts fuͤr
wahr oder gut annimt, als was es durch voͤlli-
ge Ueberzeugung und uͤbereinſtimmende Erfah-
rung dafuͤr erkannt hat, beſitzet einen hohen oder
ungemeinen Geſchmack.
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[194/0202] Zwey hundert Maximen XXIV. Ein ſcharfes iudicium findet mehr Geſchmack an ſoliden, und durch ſtarke Be- weiſe oder Vernunfts-Gruͤnde veſtgeſtellten Wahrheiten, als an lebhaften Einfaͤllen eines aufgeweckten Kopfes. XXV. Wer ſein Gedaͤchtniß gern mit Auf- hebung ſolcher Gedanken bemuͤhet, die andere gehabt, der wird mehr Geſchmack an Leſung fremder Schriften finden, als ſeinen eigenen Ge- danken nachzuſpuͤren. XXVI. Einer, der von Natur eine ſtarke Jmagination hat, wird ſelten an ſolchen Wahr- heiten einen Geſchmack finden, die per intel- lectum purum und durch abſtracte Jdeen muͤſ- ſen begriffen werden. Er wird uͤberall Bilder, und was Sinnliches, ſuchen; wo er das nicht antrifft, iſt es ſeinem natuͤrlichen Geſchmacke entgegen. XXVII. Solche gluͤckſeligen Koͤpfe, die einen ſehr lebhaften Witz, dabey aber auch durch- dringendes iudicium und ſtarke Jmagination haben, wie z. E. Leibnitz, Wolf, Lock, Neu- ton, Carteſius ꝛc. beſitzen einen hohen und ſich weit erſtreckenden Geſchmack. XXVIII. Ein Gemuͤth, das uͤber alle ge- meine Vorurtheile erhaben iſt, und nichts fuͤr wahr oder gut annimt, als was es durch voͤlli- ge Ueberzeugung und uͤbereinſtimmende Erfah- rung dafuͤr erkannt hat, beſitzet einen hohen oder ungemeinen Geſchmack. XXIX. Ein Gemuͤth, das ſeine eigene wah- re

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Zitationshilfe: Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/philippi_reimschmiedekunst_1743/202>, abgerufen am 28.04.2024.