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Pflüger, Eduard Friedrich Wilhelm: Die sensorischen Functionen des Rückenmarks der Wirbelthiere. Berlin, 1853.

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Irradiationen im Gebiete des fernen Quintus erzeugen. Es ent¬
steht ein Kitzeln und Kriebeln in der Nase, das sogar Niesen
veranlassen kann.

Hieraus folgt unzweideutig die Haltlosigkeit der ersten
Hypothese. Der aufgestellten Hypothese ähnlich ist die von
Kölliker (Mikroskopische Anatomie. I. p. 443) gegebene, wo¬
nach die Fasern, während sie die graue Substanz des Rücken¬
markes durchsetzen, auf einander einwirken sollen. Ich mag
dieser Hypothese deshalb nicht beipflichten, weil sie die Fol¬
gerung aus der gewagten Annahme ist, dass Nervenstructuren
dann noch auf einander einwirken könnten, wenn die verschie¬
denen Structuren in keiner speciellen Structurverbindung zu
einander stehen. Zudem aber wird die Kölliker'sche Erklä¬
rung durch meine Untersuchungen ebenso überflüssig als über¬
haupt die ganze Lehre von der "Querleitung" und dem excito¬
motorischen Processe.

Die zweite Erklärungsweise betrachtet den Process der
Irradiationen als ein Analogon des eigentlich sogenannten Re¬
flexes von Empfindungs- auf Bewegungsnerven. Sie nimmt
deshalb an, dass die Erregung einer Empfindungsfaser zuerst
das Centralorgan errege, um von hier einen centrifugalen Strom
in anderen Empfindungsfasern zu erregen, der dann, wieder
rückwärts fliessend, das Sensorium afficire. Nach dieser Er¬
klärung wird in dem centripetalthätigen Empfindungsnerven die
Möglichkeit centrifugaler Ströme vorausgesetzt. Es scheint Die¬
ses Vielen widersprüchlich mit der eigentlichen Function des
Nerven. Johannes Müller sucht den Widerspruch durch eine
neue Erklärung zu heben.

Er statuirt nur die Einwirkung einer centripetalen Faser
auf das centrale Ende einer anderen Faser derselben Art. Diese
Erklärung giebt uns aber denselben Widerspruch nur unter
plausiblerer Form. Wenn man einmal eine centrifugale Thätigkeit
der Empfindungsnerven in dieser Weise umgehen will, so kann
man sich jenes Nervenende nicht als mathematischen Punkt,
sondern als das letzte kleine Nervenstück vorstellen, welches

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Irradiationen im Gebiete des fernen Quintus erzeugen. Es ent¬
steht ein Kitzeln und Kriebeln in der Nase, das sogar Niesen
veranlassen kann.

Hieraus folgt unzweideutig die Haltlosigkeit der ersten
Hypothese. Der aufgestellten Hypothese ähnlich ist die von
Kölliker (Mikroskopische Anatomie. I. p. 443) gegebene, wo¬
nach die Fasern, während sie die graue Substanz des Rücken¬
markes durchsetzen, auf einander einwirken sollen. Ich mag
dieser Hypothese deshalb nicht beipflichten, weil sie die Fol¬
gerung aus der gewagten Annahme ist, dass Nervenstructuren
dann noch auf einander einwirken könnten, wenn die verschie¬
denen Structuren in keiner speciellen Structurverbindung zu
einander stehen. Zudem aber wird die Kölliker'sche Erklä¬
rung durch meine Untersuchungen ebenso überflüssig als über¬
haupt die ganze Lehre von der „Querleitung“ und dem excito¬
motorischen Processe.

Die zweite Erklärungsweise betrachtet den Process der
Irradiationen als ein Analogon des eigentlich sogenannten Re¬
flexes von Empfindungs- auf Bewegungsnerven. Sie nimmt
deshalb an, dass die Erregung einer Empfindungsfaser zuerst
das Centralorgan errege, um von hier einen centrifugalen Strom
in anderen Empfindungsfasern zu erregen, der dann, wieder
rückwärts fliessend, das Sensorium afficire. Nach dieser Er¬
klärung wird in dem centripetalthätigen Empfindungsnerven die
Möglichkeit centrifugaler Ströme vorausgesetzt. Es scheint Die¬
ses Vielen widersprüchlich mit der eigentlichen Function des
Nerven. Johannes Müller sucht den Widerspruch durch eine
neue Erklärung zu heben.

Er statuirt nur die Einwirkung einer centripetalen Faser
auf das centrale Ende einer anderen Faser derselben Art. Diese
Erklärung giebt uns aber denselben Widerspruch nur unter
plausiblerer Form. Wenn man einmal eine centrifugale Thätigkeit
der Empfindungsnerven in dieser Weise umgehen will, so kann
man sich jenes Nervenende nicht als mathematischen Punkt,
sondern als das letzte kleine Nervenstück vorstellen, welches

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[65/0087] Irradiationen im Gebiete des fernen Quintus erzeugen. Es ent¬ steht ein Kitzeln und Kriebeln in der Nase, das sogar Niesen veranlassen kann. Hieraus folgt unzweideutig die Haltlosigkeit der ersten Hypothese. Der aufgestellten Hypothese ähnlich ist die von Kölliker (Mikroskopische Anatomie. I. p. 443) gegebene, wo¬ nach die Fasern, während sie die graue Substanz des Rücken¬ markes durchsetzen, auf einander einwirken sollen. Ich mag dieser Hypothese deshalb nicht beipflichten, weil sie die Fol¬ gerung aus der gewagten Annahme ist, dass Nervenstructuren dann noch auf einander einwirken könnten, wenn die verschie¬ denen Structuren in keiner speciellen Structurverbindung zu einander stehen. Zudem aber wird die Kölliker'sche Erklä¬ rung durch meine Untersuchungen ebenso überflüssig als über¬ haupt die ganze Lehre von der „Querleitung“ und dem excito¬ motorischen Processe. Die zweite Erklärungsweise betrachtet den Process der Irradiationen als ein Analogon des eigentlich sogenannten Re¬ flexes von Empfindungs- auf Bewegungsnerven. Sie nimmt deshalb an, dass die Erregung einer Empfindungsfaser zuerst das Centralorgan errege, um von hier einen centrifugalen Strom in anderen Empfindungsfasern zu erregen, der dann, wieder rückwärts fliessend, das Sensorium afficire. Nach dieser Er¬ klärung wird in dem centripetalthätigen Empfindungsnerven die Möglichkeit centrifugaler Ströme vorausgesetzt. Es scheint Die¬ ses Vielen widersprüchlich mit der eigentlichen Function des Nerven. Johannes Müller sucht den Widerspruch durch eine neue Erklärung zu heben. Er statuirt nur die Einwirkung einer centripetalen Faser auf das centrale Ende einer anderen Faser derselben Art. Diese Erklärung giebt uns aber denselben Widerspruch nur unter plausiblerer Form. Wenn man einmal eine centrifugale Thätigkeit der Empfindungsnerven in dieser Weise umgehen will, so kann man sich jenes Nervenende nicht als mathematischen Punkt, sondern als das letzte kleine Nervenstück vorstellen, welches 5

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Zitationshilfe: Pflüger, Eduard Friedrich Wilhelm: Die sensorischen Functionen des Rückenmarks der Wirbelthiere. Berlin, 1853, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pflueger_rueckenmark_1853/87>, abgerufen am 02.05.2024.