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Pflüger, Eduard Friedrich Wilhelm: Die sensorischen Functionen des Rückenmarks der Wirbelthiere. Berlin, 1853.

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III. Von den so eben entwickelten Momenten werden wir
leicht zu einem dritten Standpunkte geführt, von welchem die
Argumentatoren aus der Gesetzmässigkeit der Bewegungen
Enthaupteter den Schluss ziehen wollten, dass die Bewegungen
nicht durch ein Bewusstsein bedingt seien. Wer aber aus der
Gesetzmässigkeit der Bewegungen einen derartigen Schluss zie¬
hen will, müsste erst beweisen, dass das Leben des Bewusst¬
seins selbst nicht ein Erfolgen nach Gesetzen, resp. eine Ge¬
setzmässigkeit für sich zulasse. Die Behauptung, dass Dieses
so sei, ist eine blosse Theorie. Darum nochmals und abermals:
Mit Theorien kann Nichts bewiesen werden! Mit einem
Worte, die willkürliche Bewegung schliesst die Gesetzmässigkeit
nicht aus. Die kleinste Molekel, die in unserem Hirne tanzt,
und der ewig unwandelbare Gang der Sterne folgen dem ewi¬
gen, alten Gesetz. Eines ist so nothwendig, als das Andere.
Jedes geht seinen angewiesenen Weg.

So können wir Kürschner's Mühe und "Scharfsinn" nur
bedauern, mit denen er das Gesetzmässige der Bewegungen
Enthaupteter aufgesucht hat. Wir wissen aber, was wir Daraus
schliessen dürfen, was nicht, und werden es weiter unten
nochmals erwähnen.

So sagt Kürschner a. a. O. p. 139:

"Vor Allen aber habe ich mich mit den gewöhnlichen Be¬
wegungen beschäftigt. Man erhält sie hauptsächlich auf Haut¬
reize der verschiedensten Art. Obgleich auf den ersten Blick
(?!) den willkürlichen ähnlich, entgeht es dem aufmerksamen
Beobachter nicht, dass sie von den Reizen selbst in allen ihren
Momenten sehr abhängig sind. Wirkt der Reiz vorübergehend,
so ist die Bewegung schnell beendigt; wirkt jener anhaltender,
so dauert sie bis zur Erschöpfung oder bis die Wirkung auf¬
gehört hat. Wirkt der Reiz plötzlich, so erscheint die Bewe¬
gung sehr hastig; bei langsamerer Wirkung jenes hat diese
denselben Charakter; ist er stark, so erscheint eine ausgedehnte
Bewegung, bei schwacher Reizung folgt eine beschränkte. Ganz
anders verhält sich ein unversehrter, ja selbst ein seiner Sinne

III. Von den so eben entwickelten Momenten werden wir
leicht zu einem dritten Standpunkte geführt, von welchem die
Argumentatoren aus der Gesetzmässigkeit der Bewegungen
Enthaupteter den Schluss ziehen wollten, dass die Bewegungen
nicht durch ein Bewusstsein bedingt seien. Wer aber aus der
Gesetzmässigkeit der Bewegungen einen derartigen Schluss zie¬
hen will, müsste erst beweisen, dass das Leben des Bewusst¬
seins selbst nicht ein Erfolgen nach Gesetzen, resp. eine Ge¬
setzmässigkeit für sich zulasse. Die Behauptung, dass Dieses
so sei, ist eine blosse Theorie. Darum nochmals und abermals:
Mit Theorien kann Nichts bewiesen werden! Mit einem
Worte, die willkürliche Bewegung schliesst die Gesetzmässigkeit
nicht aus. Die kleinste Molekel, die in unserem Hirne tanzt,
und der ewig unwandelbare Gang der Sterne folgen dem ewi¬
gen, alten Gesetz. Eines ist so nothwendig, als das Andere.
Jedes geht seinen angewiesenen Weg.

So können wir Kürschner's Mühe und „Scharfsinn“ nur
bedauern, mit denen er das Gesetzmässige der Bewegungen
Enthaupteter aufgesucht hat. Wir wissen aber, was wir Daraus
schliessen dürfen, was nicht, und werden es weiter unten
nochmals erwähnen.

So sagt Kürschner a. a. O. p. 139:

„Vor Allen aber habe ich mich mit den gewöhnlichen Be¬
wegungen beschäftigt. Man erhält sie hauptsächlich auf Haut¬
reize der verschiedensten Art. Obgleich auf den ersten Blick
(?!) den willkürlichen ähnlich, entgeht es dem aufmerksamen
Beobachter nicht, dass sie von den Reizen selbst in allen ihren
Momenten sehr abhängig sind. Wirkt der Reiz vorübergehend,
so ist die Bewegung schnell beendigt; wirkt jener anhaltender,
so dauert sie bis zur Erschöpfung oder bis die Wirkung auf¬
gehört hat. Wirkt der Reiz plötzlich, so erscheint die Bewe¬
gung sehr hastig; bei langsamerer Wirkung jenes hat diese
denselben Charakter; ist er stark, so erscheint eine ausgedehnte
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anders verhält sich ein unversehrter, ja selbst ein seiner Sinne

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[48/0070] III. Von den so eben entwickelten Momenten werden wir leicht zu einem dritten Standpunkte geführt, von welchem die Argumentatoren aus der Gesetzmässigkeit der Bewegungen Enthaupteter den Schluss ziehen wollten, dass die Bewegungen nicht durch ein Bewusstsein bedingt seien. Wer aber aus der Gesetzmässigkeit der Bewegungen einen derartigen Schluss zie¬ hen will, müsste erst beweisen, dass das Leben des Bewusst¬ seins selbst nicht ein Erfolgen nach Gesetzen, resp. eine Ge¬ setzmässigkeit für sich zulasse. Die Behauptung, dass Dieses so sei, ist eine blosse Theorie. Darum nochmals und abermals: Mit Theorien kann Nichts bewiesen werden! Mit einem Worte, die willkürliche Bewegung schliesst die Gesetzmässigkeit nicht aus. Die kleinste Molekel, die in unserem Hirne tanzt, und der ewig unwandelbare Gang der Sterne folgen dem ewi¬ gen, alten Gesetz. Eines ist so nothwendig, als das Andere. Jedes geht seinen angewiesenen Weg. So können wir Kürschner's Mühe und „Scharfsinn“ nur bedauern, mit denen er das Gesetzmässige der Bewegungen Enthaupteter aufgesucht hat. Wir wissen aber, was wir Daraus schliessen dürfen, was nicht, und werden es weiter unten nochmals erwähnen. So sagt Kürschner a. a. O. p. 139: „Vor Allen aber habe ich mich mit den gewöhnlichen Be¬ wegungen beschäftigt. Man erhält sie hauptsächlich auf Haut¬ reize der verschiedensten Art. Obgleich auf den ersten Blick (?!) den willkürlichen ähnlich, entgeht es dem aufmerksamen Beobachter nicht, dass sie von den Reizen selbst in allen ihren Momenten sehr abhängig sind. Wirkt der Reiz vorübergehend, so ist die Bewegung schnell beendigt; wirkt jener anhaltender, so dauert sie bis zur Erschöpfung oder bis die Wirkung auf¬ gehört hat. Wirkt der Reiz plötzlich, so erscheint die Bewe¬ gung sehr hastig; bei langsamerer Wirkung jenes hat diese denselben Charakter; ist er stark, so erscheint eine ausgedehnte Bewegung, bei schwacher Reizung folgt eine beschränkte. Ganz anders verhält sich ein unversehrter, ja selbst ein seiner Sinne

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Zitationshilfe: Pflüger, Eduard Friedrich Wilhelm: Die sensorischen Functionen des Rückenmarks der Wirbelthiere. Berlin, 1853, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pflueger_rueckenmark_1853/70>, abgerufen am 03.05.2024.