Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Pflüger, Eduard Friedrich Wilhelm: Die sensorischen Functionen des Rückenmarks der Wirbelthiere. Berlin, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

die letztere scheint sich nicht vertragen zu können mit allen
bekannten Eigenschaften der Materie. Nimmt man also das
Letztere an, so schreiben wir der Materie nicht blos Eigen¬
schaften zu, die sie gar nicht hat, sondern wagen es auch mit
unseren eingeschränkten und unvollkommenen Fähigkeiten die
Kräfte unkörperlicher Naturen, ihre Wirkungsart auf die Körper
und Verbindung mit denselben zu bestimmen". (Whytt a. a.
O. p. 289.)

Einige Decennien später bildet Prochaska mit Mar¬
herr
und Hartley (Haller, Elem. Phys. IV. p. 393 Anm.) die
Whytt'sche Lehre weiter aus. (Prochaska, Opera minora.
Tom. II.)

Prochaska setzt nicht allein das Sensorium in das Cerebro-
Spinalorgan und die Nerven, sondern er hält dieses für den
Ort, wo durch die Communication der Fasern die Nervensym¬
pathien möglich werden. Er entwickelt bereits das Prinzip der
von ihm zuerst so genannten "Reflexion" von sensitiven nach
motorischen Nerven, erklärt hieraus das Schliessen der Augen¬
lieder bei Berührung ihrer Ränder, das Niesen nach Reizung der
Rami nasales des Quintus, das Erbrechen nach Kitzeln des
Gaumens, ja sogar die Fortbewegungen des Intestinalinhalts
u. s. w.

Denn er sagt mit ungeschminkten und klaren Worten:

"Totum cerebrum, cerebellumque certe non videtur ad sen¬
sorium commune constituendum spectare, quae partes systematis
nervosi videntur potius instrumenta esse, quibus anima imme¬
diate utitur, ad actiones suas, animales dictas, peragendas; sed
sensorium commune proprie dictum se per medullam oblonga¬
tam, crura cerebri cerebellique etiam thalamorum opticorum
partem et totam medullam spinalem, quam late patet nervorum
origo extendere non improbabile utique videtur. Ad medullam
spinalem usque sensorium commune extendi docent motus in
animalibus decapitatis superstites, qui sine nervorum ex medulla
spinali oriundorum consensu ac commercio fieri non possent;
nam rana decapitata, si pungitur, non tantum punctam partem

die letztere scheint sich nicht vertragen zu können mit allen
bekannten Eigenschaften der Materie. Nimmt man also das
Letztere an, so schreiben wir der Materie nicht blos Eigen¬
schaften zu, die sie gar nicht hat, sondern wagen es auch mit
unseren eingeschränkten und unvollkommenen Fähigkeiten die
Kräfte unkörperlicher Naturen, ihre Wirkungsart auf die Körper
und Verbindung mit denselben zu bestimmen“. (Whytt a. a.
O. p. 289.)

Einige Decennien später bildet Prochaska mit Mar¬
herr
und Hartley (Haller, Elem. Phys. IV. p. 393 Anm.) die
Whytt'sche Lehre weiter aus. (Prochaska, Opera minora.
Tom. II.)

Prochaska setzt nicht allein das Sensorium in das Cerebro-
Spinalorgan und die Nerven, sondern er hält dieses für den
Ort, wo durch die Communication der Fasern die Nervensym¬
pathien möglich werden. Er entwickelt bereits das Prinzip der
von ihm zuerst so genannten „Reflexion“ von sensitiven nach
motorischen Nerven, erklärt hieraus das Schliessen der Augen¬
lieder bei Berührung ihrer Ränder, das Niesen nach Reizung der
Rami nasales des Quintus, das Erbrechen nach Kitzeln des
Gaumens, ja sogar die Fortbewegungen des Intestinalinhalts
u. s. w.

Denn er sagt mit ungeschminkten und klaren Worten:

„Totum cerebrum, cerebellumque certe non videtur ad sen¬
sorium commune constituendum spectare, quae partes systematis
nervosi videntur potius instrumenta esse, quibus anima imme¬
diate utitur, ad actiones suas, animales dictas, peragendas; sed
sensorium commune proprie dictum se per medullam oblonga¬
tam, crura cerebri cerebellique etiam thalamorum opticorum
partem et totam medullam spinalem, quam late patet nervorum
origo extendere non improbabile utique videtur. Ad medullam
spinalem usque sensorium commune extendi docent motus in
animalibus decapitatis superstites, qui sine nervorum ex medulla
spinali oriundorum consensu ac commercio fieri non possent;
nam rana decapitata, si pungitur, non tantum punctam partem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0026" n="4"/>
die letztere scheint sich nicht vertragen zu können mit allen<lb/>
bekannten Eigenschaften der Materie. Nimmt man also das<lb/>
Letztere an, so schreiben wir der Materie nicht blos Eigen¬<lb/>
schaften zu, die sie gar nicht hat, sondern wagen es auch mit<lb/>
unseren eingeschränkten und unvollkommenen Fähigkeiten die<lb/>
Kräfte unkörperlicher Naturen, ihre Wirkungsart auf die Körper<lb/>
und Verbindung mit denselben zu bestimmen&#x201C;. (<hi rendition="#g">Whytt</hi> a. a.<lb/>
O. p. 289.)</p><lb/>
        <p>Einige Decennien später bildet <hi rendition="#g">Prochaska</hi> mit <hi rendition="#g">Mar¬<lb/>
herr</hi> und <hi rendition="#g">Hartley</hi> (<hi rendition="#g">Haller</hi>, Elem. Phys. IV. p. 393 Anm.) die<lb/><hi rendition="#g">Whytt</hi>'sche Lehre weiter aus. (<hi rendition="#g">Prochaska</hi>, Opera minora.<lb/>
Tom. II.)</p><lb/>
        <p><hi rendition="#g">Prochaska</hi> setzt nicht allein das Sensorium in das Cerebro-<lb/>
Spinalorgan und die Nerven, sondern er hält dieses für den<lb/>
Ort, wo durch die Communication der Fasern die Nervensym¬<lb/>
pathien möglich werden. Er entwickelt bereits das Prinzip der<lb/>
von ihm zuerst so genannten &#x201E;Reflexion&#x201C; von sensitiven nach<lb/>
motorischen Nerven, erklärt hieraus das Schliessen der Augen¬<lb/>
lieder bei Berührung ihrer Ränder, das Niesen nach Reizung der<lb/>
Rami nasales des Quintus, das Erbrechen nach Kitzeln des<lb/>
Gaumens, ja sogar die Fortbewegungen des Intestinalinhalts<lb/>
u. s. w.</p><lb/>
        <p>Denn er sagt mit ungeschminkten und klaren Worten:</p><lb/>
        <p>&#x201E;Totum cerebrum, cerebellumque certe non videtur ad sen¬<lb/>
sorium commune constituendum spectare, quae partes systematis<lb/>
nervosi videntur potius instrumenta esse, quibus anima imme¬<lb/>
diate utitur, ad actiones suas, animales dictas, peragendas; sed<lb/>
sensorium commune proprie dictum se per medullam oblonga¬<lb/>
tam, crura cerebri cerebellique etiam thalamorum opticorum<lb/>
partem et totam medullam spinalem, quam late patet nervorum<lb/>
origo extendere non improbabile utique videtur. Ad medullam<lb/>
spinalem usque sensorium commune extendi docent motus in<lb/>
animalibus decapitatis superstites, qui sine nervorum ex medulla<lb/>
spinali oriundorum consensu ac commercio fieri non possent;<lb/>
nam rana decapitata, si pungitur, non tantum punctam partem<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[4/0026] die letztere scheint sich nicht vertragen zu können mit allen bekannten Eigenschaften der Materie. Nimmt man also das Letztere an, so schreiben wir der Materie nicht blos Eigen¬ schaften zu, die sie gar nicht hat, sondern wagen es auch mit unseren eingeschränkten und unvollkommenen Fähigkeiten die Kräfte unkörperlicher Naturen, ihre Wirkungsart auf die Körper und Verbindung mit denselben zu bestimmen“. (Whytt a. a. O. p. 289.) Einige Decennien später bildet Prochaska mit Mar¬ herr und Hartley (Haller, Elem. Phys. IV. p. 393 Anm.) die Whytt'sche Lehre weiter aus. (Prochaska, Opera minora. Tom. II.) Prochaska setzt nicht allein das Sensorium in das Cerebro- Spinalorgan und die Nerven, sondern er hält dieses für den Ort, wo durch die Communication der Fasern die Nervensym¬ pathien möglich werden. Er entwickelt bereits das Prinzip der von ihm zuerst so genannten „Reflexion“ von sensitiven nach motorischen Nerven, erklärt hieraus das Schliessen der Augen¬ lieder bei Berührung ihrer Ränder, das Niesen nach Reizung der Rami nasales des Quintus, das Erbrechen nach Kitzeln des Gaumens, ja sogar die Fortbewegungen des Intestinalinhalts u. s. w. Denn er sagt mit ungeschminkten und klaren Worten: „Totum cerebrum, cerebellumque certe non videtur ad sen¬ sorium commune constituendum spectare, quae partes systematis nervosi videntur potius instrumenta esse, quibus anima imme¬ diate utitur, ad actiones suas, animales dictas, peragendas; sed sensorium commune proprie dictum se per medullam oblonga¬ tam, crura cerebri cerebellique etiam thalamorum opticorum partem et totam medullam spinalem, quam late patet nervorum origo extendere non improbabile utique videtur. Ad medullam spinalem usque sensorium commune extendi docent motus in animalibus decapitatis superstites, qui sine nervorum ex medulla spinali oriundorum consensu ac commercio fieri non possent; nam rana decapitata, si pungitur, non tantum punctam partem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/pflueger_rueckenmark_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/pflueger_rueckenmark_1853/26
Zitationshilfe: Pflüger, Eduard Friedrich Wilhelm: Die sensorischen Functionen des Rückenmarks der Wirbelthiere. Berlin, 1853, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pflueger_rueckenmark_1853/26>, abgerufen am 23.11.2024.