ppe_441.006 Wenn in Goethes "Wilhelm Meister" der Dichter als "Lehrer, ppe_441.007 Wahrsager, Freund der Götter und der Menschen" gepriesen wird, ppe_441.008 so läuft diese Zusammenfassung, die einem nüchternen Skeptiker in ppe_441.009 den Mund gelegt ist, weder auf systematische Zergliederung hinaus, ppe_441.010 noch erhebt sie den Anspruch, den ganzen Aufbau der dichterischen ppe_441.011 Existenz zu deuten; aber in ihrer Viergliedrigkeit trifft sie ziemlich ppe_441.012 genau zusammen mit jenen Kategorien, die am Schluß unseres ersten ppe_441.013 Buches (S. 271 ff.) als Maßstäbe für die Wertung des einzelnen ppe_441.014 Werkes eingeführt wurden: ästhetische, ethische, religiöse und volkhafte ppe_441.015 Bestimmung. Diese Gesichtspunkte sind nun, nachdem sie der ppe_441.016 Einschätzung des Werkes gedient haben, auch auf die Gesamtschau ppe_441.017 des Dichters zu übertragen.
ppe_441.018 "Lehrer" ist nicht als Berufsstand aufzufassen. Lehren ist wirkendes ppe_441.019 Sein in der Ausstrahlung von Gedanken und Gefühlen wie von ppe_441.020 Weisheit und Welterfahrung. Es ist Selbstdarstellung und Übertragung ppe_441.021 des eigenen Erfahrungsinhaltes auf andere. Es ist Deutung von ppe_441.022 Geheimnissen in tiefem Einfühlen, in packendem Mitsichfortreißen ppe_441.023 und ergriffenem Miterlebenlassen. Das alles geschieht durch das einzige ppe_441.024 Mittel der Sprache. So ist der Lehrer der Steller und Beantworter ppe_441.025 von Fragen, der Erreger von Spannungen, deren Lösungen ppe_441.026 er bringt, der Wecker von Lebensgefühlen, der die Augen öffnet für ppe_441.027 die Zusammenhänge des Weltgeschehens, für das Wesen des Menschen ppe_441.028 und seine Schicksale. Er bereitet die, die ihm folgen, auf ihr eigenes ppe_441.029 Schicksal vor, indem er sie mit fremdem vertraut macht; er formt ppe_441.030 Charaktere und bildet die Seelen, die er in Bann zwingt durch die ppe_441.031 Zaubergewalt seines Mundes.
ppe_441.032 Bei Platon wird Homer als Erzieher ganz Griechenlands gefeiert; ppe_441.033 er ist es geworden dadurch, daß ganz Griechenland seine Sprache ppe_441.034 verstand. Firdusi hat in seinem Königsbuch ein iranisches Nationalepos
ppe_441.001
VIERTER HAUPTTEIL
ppe_441.002
DIE EXISTENZ DES DICHTERS
ppe_441.003
Gesang ist Dasein. ppe_441.004 Rilke.
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1. Spektrum
ppe_441.006 Wenn in Goethes „Wilhelm Meister“ der Dichter als „Lehrer, ppe_441.007 Wahrsager, Freund der Götter und der Menschen“ gepriesen wird, ppe_441.008 so läuft diese Zusammenfassung, die einem nüchternen Skeptiker in ppe_441.009 den Mund gelegt ist, weder auf systematische Zergliederung hinaus, ppe_441.010 noch erhebt sie den Anspruch, den ganzen Aufbau der dichterischen ppe_441.011 Existenz zu deuten; aber in ihrer Viergliedrigkeit trifft sie ziemlich ppe_441.012 genau zusammen mit jenen Kategorien, die am Schluß unseres ersten ppe_441.013 Buches (S. 271 ff.) als Maßstäbe für die Wertung des einzelnen ppe_441.014 Werkes eingeführt wurden: ästhetische, ethische, religiöse und volkhafte ppe_441.015 Bestimmung. Diese Gesichtspunkte sind nun, nachdem sie der ppe_441.016 Einschätzung des Werkes gedient haben, auch auf die Gesamtschau ppe_441.017 des Dichters zu übertragen.
ppe_441.018 „Lehrer“ ist nicht als Berufsstand aufzufassen. Lehren ist wirkendes ppe_441.019 Sein in der Ausstrahlung von Gedanken und Gefühlen wie von ppe_441.020 Weisheit und Welterfahrung. Es ist Selbstdarstellung und Übertragung ppe_441.021 des eigenen Erfahrungsinhaltes auf andere. Es ist Deutung von ppe_441.022 Geheimnissen in tiefem Einfühlen, in packendem Mitsichfortreißen ppe_441.023 und ergriffenem Miterlebenlassen. Das alles geschieht durch das einzige ppe_441.024 Mittel der Sprache. So ist der Lehrer der Steller und Beantworter ppe_441.025 von Fragen, der Erreger von Spannungen, deren Lösungen ppe_441.026 er bringt, der Wecker von Lebensgefühlen, der die Augen öffnet für ppe_441.027 die Zusammenhänge des Weltgeschehens, für das Wesen des Menschen ppe_441.028 und seine Schicksale. Er bereitet die, die ihm folgen, auf ihr eigenes ppe_441.029 Schicksal vor, indem er sie mit fremdem vertraut macht; er formt ppe_441.030 Charaktere und bildet die Seelen, die er in Bann zwingt durch die ppe_441.031 Zaubergewalt seines Mundes.
ppe_441.032 Bei Platon wird Homer als Erzieher ganz Griechenlands gefeiert; ppe_441.033 er ist es geworden dadurch, daß ganz Griechenland seine Sprache ppe_441.034 verstand. Firdusi hat in seinem Königsbuch ein iranisches Nationalepos
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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. E441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/465>, abgerufen am 25.11.2024.
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