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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944.

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Dichtung des jungen Goethe eine so große Rolle spielt. Sie wird von ppe_365.002
Müller-Freienfels als Treue gegen die eigene Natur gerechtfertigt.

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Die wiederkehrenden Erlebnisse führen zu gleichartigen Situationen ppe_365.004
zurück. Alles, was der Dichter des "Werther" sich im Roman von der ppe_365.005
Seele geschrieben hatte, wurde nachträglich in Weimar erst zum persönlichen, ppe_365.006
intensiv gesteigerten, leidenschaftlichen Erlebnis. Alle Qualen, ppe_365.007
denen der empfindsame Romanheld nicht ins Angesicht zu schauen ppe_365.008
vermochte, das Zusammenleben mit der geliebten Frau unter Zwang ppe_365.009
eines freundschaftlichen Verkehrs mit dem Dritten, dem sie angehörte ppe_365.010
-- das tägliche Geständnis, die seelische Hingabe, das gleichsam eheliche ppe_365.011
Zusammengehörigkeitsgefühl ohne Besitz -- das alles wird für ppe_365.012
zehn Jahre Goethes eigenes Schicksal. An Frau v. Stein schickt er ppe_365.013
zusammen mit dem "Werther" die Verse:

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Was ich da träumend jauchzt und litt, ppe_365.015
Muß wachend nun erfahren.

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Die Gelegenheit, die jene erste dichterische Gestaltung auslöste, ppe_365.017
wiederholt sich in abermaliger befreiender Entladung, und die neue ppe_365.018
Spiegelung heißt "Torquato Tasso"; seine Bezeichnung als "gesteigerter ppe_365.019
Werther" hat des Dichters ausdrücklichen Beifall gefunden. ppe_365.020
Goethe selbst liebte es, die Erlebniswiederkehr seiner Dichtungen in ppe_365.021
wechselseitige Beziehung zu setzen. Als das Entsagungs-Erlebnis in ppe_365.022
der "Marienbader Elegie" seinen wehmütigen Ausklang fand, wurde ppe_365.023
ihm als Motto das Tasso-Wort "Und wenn der Mensch in seiner ppe_365.024
Qual verstummt" vorangestellt, und durch Hinzunahme des Jubiläumsgedichtes, ppe_365.025
"An Werther", stellte sich in der "Trilogie der ppe_365.026
Leidenschaften" eine dreimalige Wiederholung unter gemeinsamen ppe_365.027
Nenner.

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Von den wiederkehrenden Erlebnissen ist die als "fausse reconnaissance" ppe_365.029
bezeichnete scheinbare Wiederkehr zu trennen, die begründet ppe_365.030
ist in dem unbestimmten und eingebildeten Gefühl, eine Situation, ppe_365.031
in der man sich befindet, schon einmal erlebt zu haben. In dichterischer ppe_365.032
Gestaltung mag sich dieses Erlebnis, das religionspsychologisch als ppe_365.033
Wurzel des Präexistenz- und Seelenwanderungsglaubens aufgefaßt werden ppe_365.034
kann, zum Motiv wirklicher Wiederkehr realisieren; ja es werden ppe_365.035
die dichterischen Gestalten, sobald ihr Schöpfer mit ihnen lebt und sie ppe_365.036
in visionärer Deutlichkeit vor sich sieht, zu Bestätigungen dieses Vorganges. ppe_365.037
Das zeigt sich in dem oben (S. 298) herangezogenen Beispiel ppe_365.038
Flauberts.

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Das Gegenspiel zu der zurückgreifenden Phantasie ist in der vorwegnehmenden ppe_365.040
dichterischen Gestaltung späterer Erlebnisse gegeben,

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Dichtung des jungen Goethe eine so große Rolle spielt. Sie wird von ppe_365.002
Müller-Freienfels als Treue gegen die eigene Natur gerechtfertigt.

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[365/0389] ppe_365.001 Dichtung des jungen Goethe eine so große Rolle spielt. Sie wird von ppe_365.002 Müller-Freienfels als Treue gegen die eigene Natur gerechtfertigt. ppe_365.003 Die wiederkehrenden Erlebnisse führen zu gleichartigen Situationen ppe_365.004 zurück. Alles, was der Dichter des „Werther“ sich im Roman von der ppe_365.005 Seele geschrieben hatte, wurde nachträglich in Weimar erst zum persönlichen, ppe_365.006 intensiv gesteigerten, leidenschaftlichen Erlebnis. Alle Qualen, ppe_365.007 denen der empfindsame Romanheld nicht ins Angesicht zu schauen ppe_365.008 vermochte, das Zusammenleben mit der geliebten Frau unter Zwang ppe_365.009 eines freundschaftlichen Verkehrs mit dem Dritten, dem sie angehörte ppe_365.010 — das tägliche Geständnis, die seelische Hingabe, das gleichsam eheliche ppe_365.011 Zusammengehörigkeitsgefühl ohne Besitz — das alles wird für ppe_365.012 zehn Jahre Goethes eigenes Schicksal. An Frau v. Stein schickt er ppe_365.013 zusammen mit dem „Werther“ die Verse: ppe_365.014 Was ich da träumend jauchzt und litt, ppe_365.015 Muß wachend nun erfahren. ppe_365.016 Die Gelegenheit, die jene erste dichterische Gestaltung auslöste, ppe_365.017 wiederholt sich in abermaliger befreiender Entladung, und die neue ppe_365.018 Spiegelung heißt „Torquato Tasso“; seine Bezeichnung als „gesteigerter ppe_365.019 Werther“ hat des Dichters ausdrücklichen Beifall gefunden. ppe_365.020 Goethe selbst liebte es, die Erlebniswiederkehr seiner Dichtungen in ppe_365.021 wechselseitige Beziehung zu setzen. Als das Entsagungs-Erlebnis in ppe_365.022 der „Marienbader Elegie“ seinen wehmütigen Ausklang fand, wurde ppe_365.023 ihm als Motto das Tasso-Wort „Und wenn der Mensch in seiner ppe_365.024 Qual verstummt“ vorangestellt, und durch Hinzunahme des Jubiläumsgedichtes, ppe_365.025 „An Werther“, stellte sich in der „Trilogie der ppe_365.026 Leidenschaften“ eine dreimalige Wiederholung unter gemeinsamen ppe_365.027 Nenner. ppe_365.028 Von den wiederkehrenden Erlebnissen ist die als „fausse reconnaissance“ ppe_365.029 bezeichnete scheinbare Wiederkehr zu trennen, die begründet ppe_365.030 ist in dem unbestimmten und eingebildeten Gefühl, eine Situation, ppe_365.031 in der man sich befindet, schon einmal erlebt zu haben. In dichterischer ppe_365.032 Gestaltung mag sich dieses Erlebnis, das religionspsychologisch als ppe_365.033 Wurzel des Präexistenz- und Seelenwanderungsglaubens aufgefaßt werden ppe_365.034 kann, zum Motiv wirklicher Wiederkehr realisieren; ja es werden ppe_365.035 die dichterischen Gestalten, sobald ihr Schöpfer mit ihnen lebt und sie ppe_365.036 in visionärer Deutlichkeit vor sich sieht, zu Bestätigungen dieses Vorganges. ppe_365.037 Das zeigt sich in dem oben (S. 298) herangezogenen Beispiel ppe_365.038 Flauberts. ppe_365.039 Das Gegenspiel zu der zurückgreifenden Phantasie ist in der vorwegnehmenden ppe_365.040 dichterischen Gestaltung späterer Erlebnisse gegeben,

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Zitationshilfe: Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/389>, abgerufen am 25.11.2024.