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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944.

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ZWEITER HAUPTTEIL
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SEELENLEBEN
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Er ist in die bewegte Welt ppe_337.004
Als fester Mittelpunkt gestellt, ppe_337.005
Der unberührt von Ebb' und Flut, ppe_337.006
In sich gesättigt, schweigend ruht, ppe_337.007
Weil er in sich jedweden Kreis ppe_337.008
Begonnen und beschlossen weiß, ppe_337.009
Und weil in ihm der Urgeist still ppe_337.010
Die Perl' sein Abbild zeugen will.
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Hebbel.

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1. Eindrucksfähigkeit

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Schillers Anerkennung des Dichters als des einzigen wahren Menschen ppe_337.014
erklärte sich Hebbel in seinen Tagebüchern aus dem Gleichgewicht ppe_337.015
von Rezeptivität und Produktivität, aus der Harmonie von ppe_337.016
Empfangen und Geben, aus der gegenseitigen Steigerung dieses Wechselverhältnisses ppe_337.017
zu einem erhöhten Menschentum.

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Außergewöhnliche Eindrucksfähigkeit und außerordentlich starke ppe_337.019
Ausdrucksfähigkeit bilden in der Tat schon in der Anlage die beiden ppe_337.020
Hauptvoraussetzungen künstlerischen Schaffens. Die Reizsamkeit und ppe_337.021
Empfänglichkeit für sinnliche Eindrücke, der Lebenshunger, der nach ppe_337.022
Welterfahrung, geistiger Bewegung und Erneuerung, nach Menschen- ppe_337.023
und Gotterkenntnis drängt, und die Gabe, sich von der Wirklichkeit ppe_337.024
abzuschließen und im Werk sich eine eigene Welt aufzubauen, ist ppe_337.025
allem Künstlertum gemeinsam.

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In der Ausdrucksfähigkeit trennen sich die verschiedenen Künste ppe_337.027
und Begabungen nach Richtung und Mitteln der Gestaltung; aber es ppe_337.028
bleiben Möglichkeiten der Wechselwirkung und wetteifernder Versuche, ppe_337.029
es einander gleich zu tun. Die Malerei kann musikalische, die ppe_337.030
Musik malerische Wirkungen erstreben; die Dichtung kann beides und ppe_337.031
noch mehr, denn ihr unermeßlich Reich ist der Gedanke; die Phantasie ppe_337.032
kann alle Sinne wecken, ohne an die Schranken der Sinnenwelt ppe_337.033
gebunden zu sein. So erscheint die Natur dem Dichter, wie es in ppe_337.034
"Künstlers Abendlied" heißt, als lust'ger Springbrunn, der aus tausend ppe_337.035
Röhren spielt:

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Die Perl' sein Abbild zeugen will.
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Zitationshilfe: Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. E337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/361>, abgerufen am 19.05.2024.