ppe_256.001 und Charaktere erfassen, Affekte und Sehnsüchte durchbeben, Handlungen ppe_256.002 in ihrer Folgerichtigkeit und ihren notwendigen Folgen ppe_256.003 erkennen, Vordeutungen merken und Spannungen spüren und in allem ppe_256.004 den Sinn des Ganzen erfassen, des Zusammenhanges aller Glieder ppe_256.005 bewußt sein und die Begegnung mit dem Geiste suchen, aus dem das ppe_256.006 Werk hervorgegangen ist. Und schließlich bedarf es nicht nur sprachlichen ppe_256.007 Feingefühls, um Stil und Form der Dichtung persönlich zu ppe_256.008 begreifen, sondern eine dem Dichter gewachsene und ihm sich angleichende ppe_256.009 Sprachkunst allein kann die Eindrücke zusammenfassen, die ppe_256.010 sein Werk erweckt. Denn literarisches Verstehen ist letzten Endes ppe_256.011 nicht Sache eines Einzelnen, sondern einer Gemeinschaft, deren Vorsprecher ppe_256.012 der Besprechende ist. Der Dolmetscher einer großen Dichtung ppe_256.013 aber steht mit seiner Gemeinde nicht vor dem unmittelbaren ppe_256.014 sinnlichen Eindruck des sichtbaren oder hörbaren Werkes selbst, wie ppe_256.015 im Museum oder im Konzertsaal, sondern, weil das Wesen der Dichtung ppe_256.016 Phantasiesinnlichkeit ist, muß er sie mit Phantasie begreifen; er ppe_256.017 muß sie als Geist erscheinen lassen und ihr dazu die notwendige Atmosphäre ppe_256.018 schaffen. Besprechen ist Beschwören, ein Heraufbeschwören ppe_256.019 des Geistes, der in dem Werk verborgen ist und alle Teile zusammenhält. ppe_256.020 Antwortet der Geist nicht dem an ihn ergangenen Ruf, so ist er ppe_256.021 entweder nicht vorhanden, oder der Berufende versteht nicht die in ppe_256.022 Anwendung zu bringende Zauberformel. Es ist, wie der Romantiker ppe_256.023 Friedrich Schlegel in Anklang an Jakob Böhme, an Schelling und an das ppe_256.024 Faust-Fragment ausgesprochen hat, eine Art magische Handlung, die ppe_256.025 hier zu verrichten ist: "Wer entsiegelt das Zauberbuch der Kunst und ppe_256.026 befreit den verschlossenen heiligen Geist? Nur der verwandte Geist."
ppe_256.027 Man kann danach sagen, daß der Deuter der Dichtung ein versetzter ppe_256.028 Dichter sein sollte. Kein Eigenschöpfer, dessen Geist eine ihm gehörige ppe_256.029 Welt aufbaut, sondern vielleicht ein gehemmter Dichter, der ppe_256.030 mangelnde Schöpfungskraft durch Einfühlung ersetzt und seinen ppe_256.031 Lebensdrang in einem zweiten Leben erfüllt findet, gleich dem Übersetzer, ppe_256.032 der in Mitempfindung und Nachgestaltung fremde dichterische ppe_256.033 Welten sich anzueignen vermag, wenn er ihre Sprache versteht, oder ppe_256.034 gleich dem Schauspieler, der mit seiner Menschengestaltung gedichtetem ppe_256.035 Leben Deutung gibt, indem er es sinnvoll erfühlend nachlebt und ppe_256.036 nachspricht. Die Hemmungen eigenen Schaffens begünstigen das Nachschaffen: ppe_256.037 sie lenken verborgene dichterische Gaben in die Bahn des ppe_256.038 Verstehens; sie verweilen bei beobachtendem Erkennen und gelangen ppe_256.039 in angewandtem Kunstsinn auf die Wege der Wissenschaft, die nun ppe_256.040 der Sinndeutung ihr Ziel setzt und das Erkannte Begriff werden läßt. ppe_256.041 So wird auch beim Verstehen des Kunstwerkes Tatsache, was Hans
ppe_256.001 und Charaktere erfassen, Affekte und Sehnsüchte durchbeben, Handlungen ppe_256.002 in ihrer Folgerichtigkeit und ihren notwendigen Folgen ppe_256.003 erkennen, Vordeutungen merken und Spannungen spüren und in allem ppe_256.004 den Sinn des Ganzen erfassen, des Zusammenhanges aller Glieder ppe_256.005 bewußt sein und die Begegnung mit dem Geiste suchen, aus dem das ppe_256.006 Werk hervorgegangen ist. Und schließlich bedarf es nicht nur sprachlichen ppe_256.007 Feingefühls, um Stil und Form der Dichtung persönlich zu ppe_256.008 begreifen, sondern eine dem Dichter gewachsene und ihm sich angleichende ppe_256.009 Sprachkunst allein kann die Eindrücke zusammenfassen, die ppe_256.010 sein Werk erweckt. Denn literarisches Verstehen ist letzten Endes ppe_256.011 nicht Sache eines Einzelnen, sondern einer Gemeinschaft, deren Vorsprecher ppe_256.012 der Besprechende ist. Der Dolmetscher einer großen Dichtung ppe_256.013 aber steht mit seiner Gemeinde nicht vor dem unmittelbaren ppe_256.014 sinnlichen Eindruck des sichtbaren oder hörbaren Werkes selbst, wie ppe_256.015 im Museum oder im Konzertsaal, sondern, weil das Wesen der Dichtung ppe_256.016 Phantasiesinnlichkeit ist, muß er sie mit Phantasie begreifen; er ppe_256.017 muß sie als Geist erscheinen lassen und ihr dazu die notwendige Atmosphäre ppe_256.018 schaffen. Besprechen ist Beschwören, ein Heraufbeschwören ppe_256.019 des Geistes, der in dem Werk verborgen ist und alle Teile zusammenhält. ppe_256.020 Antwortet der Geist nicht dem an ihn ergangenen Ruf, so ist er ppe_256.021 entweder nicht vorhanden, oder der Berufende versteht nicht die in ppe_256.022 Anwendung zu bringende Zauberformel. Es ist, wie der Romantiker ppe_256.023 Friedrich Schlegel in Anklang an Jakob Böhme, an Schelling und an das ppe_256.024 Faust-Fragment ausgesprochen hat, eine Art magische Handlung, die ppe_256.025 hier zu verrichten ist: „Wer entsiegelt das Zauberbuch der Kunst und ppe_256.026 befreit den verschlossenen heiligen Geist? Nur der verwandte Geist.“
ppe_256.027 Man kann danach sagen, daß der Deuter der Dichtung ein versetzter ppe_256.028 Dichter sein sollte. Kein Eigenschöpfer, dessen Geist eine ihm gehörige ppe_256.029 Welt aufbaut, sondern vielleicht ein gehemmter Dichter, der ppe_256.030 mangelnde Schöpfungskraft durch Einfühlung ersetzt und seinen ppe_256.031 Lebensdrang in einem zweiten Leben erfüllt findet, gleich dem Übersetzer, ppe_256.032 der in Mitempfindung und Nachgestaltung fremde dichterische ppe_256.033 Welten sich anzueignen vermag, wenn er ihre Sprache versteht, oder ppe_256.034 gleich dem Schauspieler, der mit seiner Menschengestaltung gedichtetem ppe_256.035 Leben Deutung gibt, indem er es sinnvoll erfühlend nachlebt und ppe_256.036 nachspricht. Die Hemmungen eigenen Schaffens begünstigen das Nachschaffen: ppe_256.037 sie lenken verborgene dichterische Gaben in die Bahn des ppe_256.038 Verstehens; sie verweilen bei beobachtendem Erkennen und gelangen ppe_256.039 in angewandtem Kunstsinn auf die Wege der Wissenschaft, die nun ppe_256.040 der Sinndeutung ihr Ziel setzt und das Erkannte Begriff werden läßt. ppe_256.041 So wird auch beim Verstehen des Kunstwerkes Tatsache, was Hans
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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/280>, abgerufen am 22.11.2024.
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