ppe_253.001 Man müßte in die Besonderheiten des Gefühlslebens und der Vorstellungswelt, ppe_253.002 die jedes einzelne Werk mit seinem Zeitalter gemein ppe_253.003 hat, eindringen können; man müßte, um zeitlich bedingte Schöpfungen ppe_253.004 zu verstehen, sich dem Typus des Schöpfers und des Empfängers ppe_253.005 innerlich angleichen. Voraussetzung für ein bewußtes Einleben wäre ppe_253.006 die Erkenntnis des Typus. Aber, was für die Wesensbestimmung des ppe_253.007 mittelalterlichen, des gotischen, des Renaissancemenschen oder des ppe_253.008 sentimentalen Menschen zutage gefördert worden ist (Hoffmann, Worringer, ppe_253.009 Scheffler, Wieser) besteht in Konstruktionen, die meist nur ppe_253.010 aus einem Ausschnitt des Ganzen, aus einem bestimmten Ausdrucksgebiet, ppe_253.011 sei es Dichtung, Kunst, Philosophie oder religiöses Leben, ppe_253.012 abstrahiert sind und schon deshalb einseitig sein müssen. Bestenfalls ppe_253.013 stellen solche Erkenntnisse ein Brillenglas her, das den Blick schärft, ppe_253.014 aber ohne eigenes Augenlicht unnütz ist.
ppe_253.015 Was soeben von den mittelalterlichen Christusdichtungen gesagt ppe_253.016 wurde, gilt nicht minder, wenn auch unter anderen Zeitumständen, ppe_253.017 von der einzigartigen Wirkung des Klopstockschen "Messias", die auf ppe_253.018 einer durch pietistisches Gefühlsleben erweichten Seelenhaltung des ppe_253.019 Menschen der Aufklärungszeit gegründet war. Man kann sich in die ppe_253.020 Empfindsamkeit mittels aller religions- und kulturgeschichtlichen ppe_253.021 Quellen einzuleben suchen, aber man wird durch dieses Zeitverstehen ppe_253.022 dennoch zu einem anderen Erlebnis der Dichtung gelangen, als es das ppe_253.023 der Zeitgenossen war. Eine Probe sind die verschiedenen erfolgreichen ppe_253.024 Versuche, für den "Messias" in Vortragsveranstaltungen unserer Zeit ppe_253.025 eine neue Gemeinde zu werben; die Auswahl der Partien, in denen ppe_253.026 das Machtwort der Dichtung heute zum ergreifenden Klang wird, ist ppe_253.027 ganz verschieden von der, die den stillen Leser des 18. Jahrhunderts ppe_253.028 mit tiefsten Eindrücken erschütterte.
ppe_253.029 Wie hier die einstige Wirkung und die heutige sich in notwendigem ppe_253.030 Gegensatz befinden, so sind auch heutiges und einstiges Verstehen ppe_253.031 nicht zu vollständigem Einklang zu bringen. Die Assoziationsfähigkeit ppe_253.032 des Interpreten bleibt an sein persönliches Erleben gebunden, so daß ppe_253.033 sein eigenes Verstehen wie das, zu dem er andere anleitet, ebenso ppe_253.034 subjektiv sein muß als die ästhetische Würdigung, die nach jener ppe_253.035 Theorie Hermann Pauls nur als geschichtlich feststellbare Wirkung ppe_253.036 objektiv erfaßbar wäre. Eine Zusammenfassung aller geschichtlichen ppe_253.037 Urteile aber würde bestenfalls ein einstmaliges "Verstandenhaben" ppe_253.038 vermitteln, das uns großenteils fremd bleiben muß. Selbst wenn wir ppe_253.039 uns bemühen, diese Fremdheit in geschichtlichem Erfassen zu überwinden, ppe_253.040 so werden wir für unser eigenes unmittelbares Verstehen des ppe_253.041 Werkes kaum eine andere Förderung erfahren können, als daß wir
ppe_253.001 Man müßte in die Besonderheiten des Gefühlslebens und der Vorstellungswelt, ppe_253.002 die jedes einzelne Werk mit seinem Zeitalter gemein ppe_253.003 hat, eindringen können; man müßte, um zeitlich bedingte Schöpfungen ppe_253.004 zu verstehen, sich dem Typus des Schöpfers und des Empfängers ppe_253.005 innerlich angleichen. Voraussetzung für ein bewußtes Einleben wäre ppe_253.006 die Erkenntnis des Typus. Aber, was für die Wesensbestimmung des ppe_253.007 mittelalterlichen, des gotischen, des Renaissancemenschen oder des ppe_253.008 sentimentalen Menschen zutage gefördert worden ist (Hoffmann, Worringer, ppe_253.009 Scheffler, Wieser) besteht in Konstruktionen, die meist nur ppe_253.010 aus einem Ausschnitt des Ganzen, aus einem bestimmten Ausdrucksgebiet, ppe_253.011 sei es Dichtung, Kunst, Philosophie oder religiöses Leben, ppe_253.012 abstrahiert sind und schon deshalb einseitig sein müssen. Bestenfalls ppe_253.013 stellen solche Erkenntnisse ein Brillenglas her, das den Blick schärft, ppe_253.014 aber ohne eigenes Augenlicht unnütz ist.
ppe_253.015 Was soeben von den mittelalterlichen Christusdichtungen gesagt ppe_253.016 wurde, gilt nicht minder, wenn auch unter anderen Zeitumständen, ppe_253.017 von der einzigartigen Wirkung des Klopstockschen „Messias“, die auf ppe_253.018 einer durch pietistisches Gefühlsleben erweichten Seelenhaltung des ppe_253.019 Menschen der Aufklärungszeit gegründet war. Man kann sich in die ppe_253.020 Empfindsamkeit mittels aller religions- und kulturgeschichtlichen ppe_253.021 Quellen einzuleben suchen, aber man wird durch dieses Zeitverstehen ppe_253.022 dennoch zu einem anderen Erlebnis der Dichtung gelangen, als es das ppe_253.023 der Zeitgenossen war. Eine Probe sind die verschiedenen erfolgreichen ppe_253.024 Versuche, für den „Messias“ in Vortragsveranstaltungen unserer Zeit ppe_253.025 eine neue Gemeinde zu werben; die Auswahl der Partien, in denen ppe_253.026 das Machtwort der Dichtung heute zum ergreifenden Klang wird, ist ppe_253.027 ganz verschieden von der, die den stillen Leser des 18. Jahrhunderts ppe_253.028 mit tiefsten Eindrücken erschütterte.
ppe_253.029 Wie hier die einstige Wirkung und die heutige sich in notwendigem ppe_253.030 Gegensatz befinden, so sind auch heutiges und einstiges Verstehen ppe_253.031 nicht zu vollständigem Einklang zu bringen. Die Assoziationsfähigkeit ppe_253.032 des Interpreten bleibt an sein persönliches Erleben gebunden, so daß ppe_253.033 sein eigenes Verstehen wie das, zu dem er andere anleitet, ebenso ppe_253.034 subjektiv sein muß als die ästhetische Würdigung, die nach jener ppe_253.035 Theorie Hermann Pauls nur als geschichtlich feststellbare Wirkung ppe_253.036 objektiv erfaßbar wäre. Eine Zusammenfassung aller geschichtlichen ppe_253.037 Urteile aber würde bestenfalls ein einstmaliges „Verstandenhaben“ ppe_253.038 vermitteln, das uns großenteils fremd bleiben muß. Selbst wenn wir ppe_253.039 uns bemühen, diese Fremdheit in geschichtlichem Erfassen zu überwinden, ppe_253.040 so werden wir für unser eigenes unmittelbares Verstehen des ppe_253.041 Werkes kaum eine andere Förderung erfahren können, als daß wir
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Man müßte in die Besonderheiten des Gefühlslebens und der Vorstellungswelt, ppe_253.002
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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/277>, abgerufen am 23.11.2024.
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