ppe_091.001 die Ausgabe letzter Hand zugrundelegen, aber die auf Himburg zurückgehenden ppe_091.002 Verderbnisse durch Zurückgreifen auf die erste Ausgabe ausmerzen ppe_091.003 müssen, um echtgoethesche Ausdrucksform wieder herzustellen.
ppe_091.004 Mit Goethes Text haben sich noch merkwürdigere Dinge ereignet. ppe_091.005 Von der "Erklärung der zu Goethes Farbenlehre gehörigen Tafeln", ppe_091.006 auf deren Druck im Jahre 1810 besonders liebevolle Sorgfalt verwendet ppe_091.007 war, wurde zwei Jahre später durch Geistinger in Wien ein ppe_091.008 unrechtmäßiger Nachdruck veranstaltet. Hier war der Verfasser ganz ppe_091.009 unbeteiligt, wenn die Verballhornung mit ihren sinnentstellenden ppe_091.010 Fehlern allen späteren Goethe-Ausgaben, auch denen, die höchste ppe_091.011 wissenschaftliche Ansprüche stellten, als authentische Fassung galt. ppe_091.012 Erst 1937 kam es heraus, daß die wegen ihrer kleinlichen Akribie so ppe_091.013 viel verspotteten Goethe-Philologen auf den Leim gegangen waren, ppe_091.014 indem sie es versäumten, alle erreichbaren Einzelausgaben in Vergleich ppe_091.015 zu ziehen.
ppe_091.016 Ein verhältnismäßig einfaches Beispiel aus dem Goethe-Text konnte ppe_091.017 das philosophische Gewissen zeitweilig in Konflikte bringen. Die Zueignung ppe_091.018 zu Goethes "Faust" bringt im ersten Druck den Vers "Mein ppe_091.019 Leid ertönt der unbekannten Menge". Goethes Tagebücher des ppe_091.020 Jahres 1809 enthalten ein Jahr nach dem Erscheinen des ersten ppe_091.021 Teiles das von dem Philologen Riemer, der bei der Drucklegung half, ppe_091.022 zusammengestellte Druckfehlerverzeichnis; darin steht: "8. Bd. S. 5 ppe_091.023 Z. 21 Leid: lies Lied." Ohne Zweifel hat Goethe damals diese Bemerkung ppe_091.024 gebilligt. Trotzdem blieb "Leid" in den folgenden Ausgaben ppe_091.025 von 1817 und 1828 stehen; nur in einer Einzelausgabe des Jahres ppe_091.026 1816 ist "Lied" eingesetzt, ebenso in allen Ausgaben nach Goethes ppe_091.027 Tod (zunächst unter Mitwirkung Riemers), bis die Weimarer Ausgabe ppe_091.028 wiederum auf "Leid" zurückgriff. Sie mußte sich dahin entscheiden ppe_091.029 gemäß dem Grundsatz, in zweifelhaften Fällen die Ausgabe letzter ppe_091.030 Hand (1828) als maßgebend anzusehen. Die Handschrift, die ppe_091.031 über den ursprünglichen Wortlaut hätte Aufschluß geben können, ppe_091.032 ist nicht erhalten. Es wäre möglich, daß in der Druckvorlage ppe_091.033 "Lied" stand (was Riemer wußte), daß aber Goethe an dem ppe_091.034 Druckfehler "Leid" Gefallen fand, weil ihm dadurch über das, was ppe_091.035 er eigentlich gefühlt hatte, die Augen geöffnet wurden. Der Druckfehlerteufel ppe_091.036 hätte damit einmal etwas Gutes eingegeben, denn es kann ppe_091.037 kein Zweifel sein, daß das Wort "Leid" viel mehr persönlichen Lebensgehalt ppe_091.038 gerade in bezug auf das Selbstbekenntnis der "Zueignung" ppe_091.039 offenbart als das banalere "Lied", so daß ihm der Vorzug zu geben ist. ppe_091.040 Hier also ist ein Beispiel, wie das tiefere Verstehen und die Sinnesdeutung ppe_091.041 bei der Textkritik mitzusprechen haben; es bleibt bloß die
ppe_091.001 die Ausgabe letzter Hand zugrundelegen, aber die auf Himburg zurückgehenden ppe_091.002 Verderbnisse durch Zurückgreifen auf die erste Ausgabe ausmerzen ppe_091.003 müssen, um echtgoethesche Ausdrucksform wieder herzustellen.
ppe_091.004 Mit Goethes Text haben sich noch merkwürdigere Dinge ereignet. ppe_091.005 Von der „Erklärung der zu Goethes Farbenlehre gehörigen Tafeln“, ppe_091.006 auf deren Druck im Jahre 1810 besonders liebevolle Sorgfalt verwendet ppe_091.007 war, wurde zwei Jahre später durch Geistinger in Wien ein ppe_091.008 unrechtmäßiger Nachdruck veranstaltet. Hier war der Verfasser ganz ppe_091.009 unbeteiligt, wenn die Verballhornung mit ihren sinnentstellenden ppe_091.010 Fehlern allen späteren Goethe-Ausgaben, auch denen, die höchste ppe_091.011 wissenschaftliche Ansprüche stellten, als authentische Fassung galt. ppe_091.012 Erst 1937 kam es heraus, daß die wegen ihrer kleinlichen Akribie so ppe_091.013 viel verspotteten Goethe-Philologen auf den Leim gegangen waren, ppe_091.014 indem sie es versäumten, alle erreichbaren Einzelausgaben in Vergleich ppe_091.015 zu ziehen.
ppe_091.016 Ein verhältnismäßig einfaches Beispiel aus dem Goethe-Text konnte ppe_091.017 das philosophische Gewissen zeitweilig in Konflikte bringen. Die Zueignung ppe_091.018 zu Goethes „Faust“ bringt im ersten Druck den Vers „Mein ppe_091.019 Leid ertönt der unbekannten Menge“. Goethes Tagebücher des ppe_091.020 Jahres 1809 enthalten ein Jahr nach dem Erscheinen des ersten ppe_091.021 Teiles das von dem Philologen Riemer, der bei der Drucklegung half, ppe_091.022 zusammengestellte Druckfehlerverzeichnis; darin steht: „8. Bd. S. 5 ppe_091.023 Z. 21 Leid: lies Lied.“ Ohne Zweifel hat Goethe damals diese Bemerkung ppe_091.024 gebilligt. Trotzdem blieb „Leid“ in den folgenden Ausgaben ppe_091.025 von 1817 und 1828 stehen; nur in einer Einzelausgabe des Jahres ppe_091.026 1816 ist „Lied“ eingesetzt, ebenso in allen Ausgaben nach Goethes ppe_091.027 Tod (zunächst unter Mitwirkung Riemers), bis die Weimarer Ausgabe ppe_091.028 wiederum auf „Leid“ zurückgriff. Sie mußte sich dahin entscheiden ppe_091.029 gemäß dem Grundsatz, in zweifelhaften Fällen die Ausgabe letzter ppe_091.030 Hand (1828) als maßgebend anzusehen. Die Handschrift, die ppe_091.031 über den ursprünglichen Wortlaut hätte Aufschluß geben können, ppe_091.032 ist nicht erhalten. Es wäre möglich, daß in der Druckvorlage ppe_091.033 „Lied“ stand (was Riemer wußte), daß aber Goethe an dem ppe_091.034 Druckfehler „Leid“ Gefallen fand, weil ihm dadurch über das, was ppe_091.035 er eigentlich gefühlt hatte, die Augen geöffnet wurden. Der Druckfehlerteufel ppe_091.036 hätte damit einmal etwas Gutes eingegeben, denn es kann ppe_091.037 kein Zweifel sein, daß das Wort „Leid“ viel mehr persönlichen Lebensgehalt ppe_091.038 gerade in bezug auf das Selbstbekenntnis der „Zueignung“ ppe_091.039 offenbart als das banalere „Lied“, so daß ihm der Vorzug zu geben ist. ppe_091.040 Hier also ist ein Beispiel, wie das tiefere Verstehen und die Sinnesdeutung ppe_091.041 bei der Textkritik mitzusprechen haben; es bleibt bloß die
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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/115>, abgerufen am 24.11.2024.
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