ppe_090.001 des ersten Erscheinens zu Unrecht wiederholt ist und daß der Autor ppe_090.002 um seine Rechte an der zweiten Auflage geprellt wurde. Dieser Verdacht ppe_090.003 ist unbegründet, wenn die Doppelausgabe vertraglich vorgesehen ppe_090.004 war, wie beispielsweise Cotta seine erste Gesamtausgabe von Goethes ppe_090.005 Werken aus Gründen des Druckprivilegs in Wien nachdruckte und ppe_090.006 von der endgültigen Gesamtausgabe gleich mehrere im Format und ppe_090.007 Papier verschiedene Fassungen herstellen ließ.
ppe_090.008 In bezug auf Überlieferungswert für die Kritik des Textes ist es ppe_090.009 wohl möglich, daß Doppeldrucke, wenn sie auf dieselbe Druckvorlage ppe_090.010 zurückgehen, sich ergänzen, indem der eine die Fehler des anderen ppe_090.011 wieder gut macht, aber seinerseits neue Fehler hineinbringt. Auf jeden ppe_090.012 Fall sind immer nur diejenigen Drucke für Kritik des Textes von ppe_090.013 Wert, an denen der Verfasser irgendwelchen Anteil hatte. Mit dem ppe_090.014 Tod des Verfassers oder schon mit seiner beginnenden Interesselosigkeit ppe_090.015 hört die Zuverlässigkeit auf; Änderungen späterer Auflagen können ppe_090.016 günstigstenfalls die Bedeutung von überlegten Konjekturen haben; ppe_090.017 in der Regel aber sind es nur gedankenlose Vernachlässigungen. Man ppe_090.018 erinnert sich, welche Klagen Jakob Grimm 1859 in seiner Schillerrede ppe_090.019 über die Verwahrlosung der privilegierten Cottaschen Klassikertexte ppe_090.020 führte, nachdem schon vorher Joachim Meyer seine Besserungsvorschläge ppe_090.021 zum Schillertext gemacht hatte. Ein ähnlicher Fall spielte ppe_090.022 sich 30 Jahre nach Theodor Storms Tod ab; als Albert Köster eine ppe_090.023 neue Gesamtausgabe seiner Werke überwachte, stellte sich heraus, ppe_090.024 daß der Text, von einfachen Druckfehlern abgesehen, an mehr als ppe_090.025 1550 Stellen durch Zurückgehen auf die frühen Drucke von eingedrungenen ppe_090.026 und fortgeschleppten Entstellungen zu reinigen war.
ppe_090.027 Solche Fehler können sich allerdings auch unter den Augen des ppe_090.028 Dichters einschleichen. Goethe z. B. hat bei seiner 1786 in Karlsbad ppe_090.029 vorgenommenen Umarbeitung von "Werthers Leiden" bequemlichkeitshalber ppe_090.030 den gewissenlosen Nachdruck des Berliners Himburg ppe_090.031 (1779) zugrunde gelegt und bei der Durchsicht eine Reihe von Flüchtigkeiten ppe_090.032 unbemerkt gelassen, die nun über die Ausgabe letzter Hand ppe_090.033 hinaus weiter geschleppt wurden, bis Michael Bernays den Sachverhalt ppe_090.034 aufdeckte. Ähnliches scheint sich bei Grimmelshausens "Simplicissimus" ppe_090.035 abgespielt zu haben, wo der Verfasser bei späterer Umarbeitung ppe_090.036 bewußtermaßen die in Rechtschreibung und Satzbau sehr eingreifenden ppe_090.037 Änderungen eines Nachdruckers, gegen den er im übrigen wetterte, ppe_090.038 sich zu eigen gemacht hat. Der letzte Wille des Dichters ist ppe_090.039 in diesen beiden Fällen verschieden auszulegen: während man beim ppe_090.040 "Simplicissimus" die einheitlich durchgeführte Anpassung an die planmäßigen ppe_090.041 Eingriffe anerkennen muß, wird man beim "Werther" zwar
ppe_090.001 des ersten Erscheinens zu Unrecht wiederholt ist und daß der Autor ppe_090.002 um seine Rechte an der zweiten Auflage geprellt wurde. Dieser Verdacht ppe_090.003 ist unbegründet, wenn die Doppelausgabe vertraglich vorgesehen ppe_090.004 war, wie beispielsweise Cotta seine erste Gesamtausgabe von Goethes ppe_090.005 Werken aus Gründen des Druckprivilegs in Wien nachdruckte und ppe_090.006 von der endgültigen Gesamtausgabe gleich mehrere im Format und ppe_090.007 Papier verschiedene Fassungen herstellen ließ.
ppe_090.008 In bezug auf Überlieferungswert für die Kritik des Textes ist es ppe_090.009 wohl möglich, daß Doppeldrucke, wenn sie auf dieselbe Druckvorlage ppe_090.010 zurückgehen, sich ergänzen, indem der eine die Fehler des anderen ppe_090.011 wieder gut macht, aber seinerseits neue Fehler hineinbringt. Auf jeden ppe_090.012 Fall sind immer nur diejenigen Drucke für Kritik des Textes von ppe_090.013 Wert, an denen der Verfasser irgendwelchen Anteil hatte. Mit dem ppe_090.014 Tod des Verfassers oder schon mit seiner beginnenden Interesselosigkeit ppe_090.015 hört die Zuverlässigkeit auf; Änderungen späterer Auflagen können ppe_090.016 günstigstenfalls die Bedeutung von überlegten Konjekturen haben; ppe_090.017 in der Regel aber sind es nur gedankenlose Vernachlässigungen. Man ppe_090.018 erinnert sich, welche Klagen Jakob Grimm 1859 in seiner Schillerrede ppe_090.019 über die Verwahrlosung der privilegierten Cottaschen Klassikertexte ppe_090.020 führte, nachdem schon vorher Joachim Meyer seine Besserungsvorschläge ppe_090.021 zum Schillertext gemacht hatte. Ein ähnlicher Fall spielte ppe_090.022 sich 30 Jahre nach Theodor Storms Tod ab; als Albert Köster eine ppe_090.023 neue Gesamtausgabe seiner Werke überwachte, stellte sich heraus, ppe_090.024 daß der Text, von einfachen Druckfehlern abgesehen, an mehr als ppe_090.025 1550 Stellen durch Zurückgehen auf die frühen Drucke von eingedrungenen ppe_090.026 und fortgeschleppten Entstellungen zu reinigen war.
ppe_090.027 Solche Fehler können sich allerdings auch unter den Augen des ppe_090.028 Dichters einschleichen. Goethe z. B. hat bei seiner 1786 in Karlsbad ppe_090.029 vorgenommenen Umarbeitung von „Werthers Leiden“ bequemlichkeitshalber ppe_090.030 den gewissenlosen Nachdruck des Berliners Himburg ppe_090.031 (1779) zugrunde gelegt und bei der Durchsicht eine Reihe von Flüchtigkeiten ppe_090.032 unbemerkt gelassen, die nun über die Ausgabe letzter Hand ppe_090.033 hinaus weiter geschleppt wurden, bis Michael Bernays den Sachverhalt ppe_090.034 aufdeckte. Ähnliches scheint sich bei Grimmelshausens „Simplicissimus“ ppe_090.035 abgespielt zu haben, wo der Verfasser bei späterer Umarbeitung ppe_090.036 bewußtermaßen die in Rechtschreibung und Satzbau sehr eingreifenden ppe_090.037 Änderungen eines Nachdruckers, gegen den er im übrigen wetterte, ppe_090.038 sich zu eigen gemacht hat. Der letzte Wille des Dichters ist ppe_090.039 in diesen beiden Fällen verschieden auszulegen: während man beim ppe_090.040 „Simplicissimus“ die einheitlich durchgeführte Anpassung an die planmäßigen ppe_090.041 Eingriffe anerkennen muß, wird man beim „Werther“ zwar
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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/114>, abgerufen am 24.11.2024.
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