Wer am meisten daraus machte, war ein Renold, ein Mann, der gegen neunzig gieng. Er hatte mit kaltem Blut und mit offenen Au- gen so lang gelebt, und wußte die Veränderun- gen des Dorfs hinauf bis ins vorige Jahrhun- dert.
Dieser Greis hatte einmal nach alter Uebung seine Kinder und Enkel am Sonntag Abend zum Nachtessen.
Und als der Großsohn, an dem die Ordnung war, zuerst sein Capitel aus der Bibel gelesen, und der lange Reihe des gesegneten Hauses am Tisch saß, so sah der Alte mit frohem nikenden Wesen hinab zu der lieben Jugend unten am Tisch, und sagte: Kinder! was macht auch euer Schulmeister? ist er auch gesund und wohl? Laut und freudig erwiederten die Kinder dem Alten: Ja! ja! Großvater! er ist Gottlob ge- sund, er ist Gottlob gesund, der liebe Herr Schulmeister! Da sagte der Alte: ich wollte jezt nichts lieber, als daß er auch da wäre, und wir alle mit einander dem braven Mann, den uns wohl der liebe Gott gegeben, auch danken könnten.
Dann fieng er an, und sagte: -- ihr wisset nicht, was er an euch thut, und was er euch ist, aber ich weiß es, und will euch jezt sagen, was ihr ihm zu danken habet.
Kinder! unser armes Dorf ist wie eine zer-
Wer am meiſten daraus machte, war ein Renold, ein Mann, der gegen neunzig gieng. Er hatte mit kaltem Blut und mit offenen Au- gen ſo lang gelebt, und wußte die Veraͤnderun- gen des Dorfs hinauf bis ins vorige Jahrhun- dert.
Dieſer Greis hatte einmal nach alter Uebung ſeine Kinder und Enkel am Sonntag Abend zum Nachteſſen.
Und als der Großſohn, an dem die Ordnung war, zuerſt ſein Capitel aus der Bibel geleſen, und der lange Reihe des geſegneten Hauſes am Tiſch ſaß, ſo ſah der Alte mit frohem nikenden Weſen hinab zu der lieben Jugend unten am Tiſch, und ſagte: Kinder! was macht auch euer Schulmeiſter? iſt er auch geſund und wohl? Laut und freudig erwiederten die Kinder dem Alten: Ja! ja! Großvater! er iſt Gottlob ge- ſund, er iſt Gottlob geſund, der liebe Herr Schulmeiſter! Da ſagte der Alte: ich wollte jezt nichts lieber, als daß er auch da waͤre, und wir alle mit einander dem braven Mann, den uns wohl der liebe Gott gegeben, auch danken koͤnnten.
Dann fieng er an, und ſagte: — ihr wiſſet nicht, was er an euch thut, und was er euch iſt, aber ich weiß es, und will euch jezt ſagen, was ihr ihm zu danken habet.
Kinder! unſer armes Dorf iſt wie eine zer-
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Wer am meiſten daraus machte, war ein
Renold, ein Mann, der gegen neunzig gieng.
Er hatte mit kaltem Blut und mit offenen Au-
gen ſo lang gelebt, und wußte die Veraͤnderun-
gen des Dorfs hinauf bis ins vorige Jahrhun-
dert.
Dieſer Greis hatte einmal nach alter Uebung
ſeine Kinder und Enkel am Sonntag Abend
zum Nachteſſen.
Und als der Großſohn, an dem die Ordnung
war, zuerſt ſein Capitel aus der Bibel geleſen,
und der lange Reihe des geſegneten Hauſes am
Tiſch ſaß, ſo ſah der Alte mit frohem nikenden
Weſen hinab zu der lieben Jugend unten am
Tiſch, und ſagte: Kinder! was macht auch euer
Schulmeiſter? iſt er auch geſund und wohl?
Laut und freudig erwiederten die Kinder dem
Alten: Ja! ja! Großvater! er iſt Gottlob ge-
ſund, er iſt Gottlob geſund, der liebe Herr
Schulmeiſter! Da ſagte der Alte: ich wollte
jezt nichts lieber, als daß er auch da waͤre, und
wir alle mit einander dem braven Mann, den
uns wohl der liebe Gott gegeben, auch danken
koͤnnten.
Dann fieng er an, und ſagte: — ihr wiſſet
nicht, was er an euch thut, und was er euch
iſt, aber ich weiß es, und will euch jezt ſagen,
was ihr ihm zu danken habet.
Kinder! unſer armes Dorf iſt wie eine zer-
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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1785, S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard03_1785/419>, abgerufen am 23.11.2024.
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