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Pestalozzi, Johann Heinrich: Lienhard und Gertrud. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1783.

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ken zur Wiederherstellung ihrer gewaltsam zer-
störten Natur, und ihres verheerten Da-
seyns, mehr als alle andere Menschen, Scho-
nung, Menschlichkeit und Liebe nöthig haben.

Aber ich erwache von meinem Traum --
das Volk der Erde stehet nicht vor mir, und
die Geschlechter der Erden hören mich nicht;
und ihr meine Lieben! mit denen ich rede,
werdet an dem Mann, der hier vor euch ste-
het, nicht unbarmherzig und unempfindlich
handeln, sonder vielmehr die Geschichte sei-
nes Lebens brauchen, daß ihr einander weni-
ger plaget, und vorbieget, daß ihr unter ein-
ander und von einander je länger je weniger
verderbt und verheeret werden -- und so des
Elends, das unter uns ist, täglich weniger
werde.

Es war so drükend dieses Elend, und ich
konnte bis auf diese Stunde so viel als nichts
dagegen thun, als Mitleiden mit euch haben,
und schweigen.

Aber Zeuge bist du Kanzel des Herrn! wie
tief mich euer Elend beugte. --

Und noch mehr Zeuge bist du, todter
Stein! aus dem ich nun 20. Jahre das Ge-
schlecht taufte, das hinter uns aufwuchs --
Zeuge bist du -- was meine Seele litte,
wenn ich euere Kinder in meine Hand nahm,
und dachte, welch einem Leben sie entgegen
gehen. --


Aber

ken zur Wiederherſtellung ihrer gewaltſam zer-
ſtoͤrten Natur, und ihres verheerten Da-
ſeyns, mehr als alle andere Menſchen, Scho-
nung, Menſchlichkeit und Liebe noͤthig haben.

Aber ich erwache von meinem Traum —
das Volk der Erde ſtehet nicht vor mir, und
die Geſchlechter der Erden hoͤren mich nicht;
und ihr meine Lieben! mit denen ich rede,
werdet an dem Mann, der hier vor euch ſte-
het, nicht unbarmherzig und unempfindlich
handeln, ſonder vielmehr die Geſchichte ſei-
nes Lebens brauchen, daß ihr einander weni-
ger plaget, und vorbieget, daß ihr unter ein-
ander und von einander je laͤnger je weniger
verderbt und verheeret werden — und ſo des
Elends, das unter uns iſt, taͤglich weniger
werde.

Es war ſo druͤkend dieſes Elend, und ich
konnte bis auf dieſe Stunde ſo viel als nichts
dagegen thun, als Mitleiden mit euch haben,
und ſchweigen.

Aber Zeuge biſt du Kanzel des Herrn! wie
tief mich euer Elend beugte. —

Und noch mehr Zeuge biſt du, todter
Stein! aus dem ich nun 20. Jahre das Ge-
ſchlecht taufte, das hinter uns aufwuchs —
Zeuge biſt du — was meine Seele litte,
wenn ich euere Kinder in meine Hand nahm,
und dachte, welch einem Leben ſie entgegen
gehen. —


Aber
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[354/0372] ken zur Wiederherſtellung ihrer gewaltſam zer- ſtoͤrten Natur, und ihres verheerten Da- ſeyns, mehr als alle andere Menſchen, Scho- nung, Menſchlichkeit und Liebe noͤthig haben. Aber ich erwache von meinem Traum — das Volk der Erde ſtehet nicht vor mir, und die Geſchlechter der Erden hoͤren mich nicht; und ihr meine Lieben! mit denen ich rede, werdet an dem Mann, der hier vor euch ſte- het, nicht unbarmherzig und unempfindlich handeln, ſonder vielmehr die Geſchichte ſei- nes Lebens brauchen, daß ihr einander weni- ger plaget, und vorbieget, daß ihr unter ein- ander und von einander je laͤnger je weniger verderbt und verheeret werden — und ſo des Elends, das unter uns iſt, taͤglich weniger werde. Es war ſo druͤkend dieſes Elend, und ich konnte bis auf dieſe Stunde ſo viel als nichts dagegen thun, als Mitleiden mit euch haben, und ſchweigen. Aber Zeuge biſt du Kanzel des Herrn! wie tief mich euer Elend beugte. — Und noch mehr Zeuge biſt du, todter Stein! aus dem ich nun 20. Jahre das Ge- ſchlecht taufte, das hinter uns aufwuchs — Zeuge biſt du — was meine Seele litte, wenn ich euere Kinder in meine Hand nahm, und dachte, welch einem Leben ſie entgegen gehen. — Aber

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Zitationshilfe: Pestalozzi, Johann Heinrich: Lienhard und Gertrud. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1783, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard02_1783/372>, abgerufen am 03.05.2024.