"Liebe Menschen! daß doch keines von euch allen meyne, dieses Unglük hätte ihm nicht auch begegnen können! hebet euere Au- gen auf und sehet! warum steht der arme Mann vor Euch? -- Antwortet; Jsts et- was anders, als weil er hochmüthig, geizig, hartherzig und undankbar gegen Gott und Menschen war? . . . . Und hebet eure Au- gen auf vor dem Angesicht Gottes, und re- det: Wer unter Euch ist nicht geizig, hart- herzig und undankbar? Redet, redet! Rede, Mann! Weib! Steh' auf und rede! Jst ei- ner unter Euch nicht hochmüthig, nicht gei- zig, nicht hartherzig, nicht undankbar? Er stehe auf, er sey unser Lehrer; ich will zu seinen Füßen sizen, und ihn hören und ihm anhangen, wie ein Kind seinem Vater an- hanget! Denn ich, o Herr, bin ein Sün- der, und meine Seele ist nicht rein von al- lem dem Bösen, um deßwillen der arme Mann vor Euch leidet!" --
Ueber den Unterschied zwischen der Sünde in ihrem Anfang und zwischen der grösten Verwilderung, in welcher der Vogt lebte, sagte er ihnen folgendes Gleichniß:
"Es ist ein großer Unterschied zwischen ei- nem Kornähre und einem ganzen Viertel Frucht; Aber wenn du das Aehre säest, und übers Jahr schneidest, so hast du vielleicht
hun-
„Liebe Menſchen! daß doch keines von euch allen meyne, dieſes Ungluͤk haͤtte ihm nicht auch begegnen koͤnnen! hebet euere Au- gen auf und ſehet! warum ſteht der arme Mann vor Euch? — Antwortet; Jſts et- was anders, als weil er hochmuͤthig, geizig, hartherzig und undankbar gegen Gott und Menſchen war? . . . . Und hebet eure Au- gen auf vor dem Angeſicht Gottes, und re- det: Wer unter Euch iſt nicht geizig, hart- herzig und undankbar? Redet, redet! Rede, Mann! Weib! Steh' auf und rede! Jſt ei- ner unter Euch nicht hochmuͤthig, nicht gei- zig, nicht hartherzig, nicht undankbar? Er ſtehe auf, er ſey unſer Lehrer; ich will zu ſeinen Fuͤßen ſizen, und ihn hoͤren und ihm anhangen, wie ein Kind ſeinem Vater an- hanget! Denn ich, o Herr, bin ein Suͤn- der, und meine Seele iſt nicht rein von al- lem dem Boͤſen, um deßwillen der arme Mann vor Euch leidet!“ —
Ueber den Unterſchied zwiſchen der Suͤnde in ihrem Anfang und zwiſchen der groͤſten Verwilderung, in welcher der Vogt lebte, ſagte er ihnen folgendes Gleichniß:
„Es iſt ein großer Unterſchied zwiſchen ei- nem Kornaͤhre und einem ganzen Viertel Frucht; Aber wenn du das Aehre ſaͤeſt, und uͤbers Jahr ſchneideſt, ſo haſt du vielleicht
hun-
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„Liebe Menſchen! daß doch keines von
euch allen meyne, dieſes Ungluͤk haͤtte ihm
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gen auf und ſehet! warum ſteht der arme
Mann vor Euch? — Antwortet; Jſts et-
was anders, als weil er hochmuͤthig, geizig,
hartherzig und undankbar gegen Gott und
Menſchen war? . . . . Und hebet eure Au-
gen auf vor dem Angeſicht Gottes, und re-
det: Wer unter Euch iſt nicht geizig, hart-
herzig und undankbar? Redet, redet! Rede,
Mann! Weib! Steh' auf und rede! Jſt ei-
ner unter Euch nicht hochmuͤthig, nicht gei-
zig, nicht hartherzig, nicht undankbar? Er
ſtehe auf, er ſey unſer Lehrer; ich will zu
ſeinen Fuͤßen ſizen, und ihn hoͤren und ihm
anhangen, wie ein Kind ſeinem Vater an-
hanget! Denn ich, o Herr, bin ein Suͤn-
der, und meine Seele iſt nicht rein von al-
lem dem Boͤſen, um deßwillen der arme
Mann vor Euch leidet!“ —
Ueber den Unterſchied zwiſchen der Suͤnde
in ihrem Anfang und zwiſchen der groͤſten
Verwilderung, in welcher der Vogt lebte,
ſagte er ihnen folgendes Gleichniß:
„Es iſt ein großer Unterſchied zwiſchen ei-
nem Kornaͤhre und einem ganzen Viertel
Frucht; Aber wenn du das Aehre ſaͤeſt, und
uͤbers Jahr ſchneideſt, ſo haſt du vielleicht
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Pestalozzi, Johann Heinrich: Lienhard und Gertrud. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1783, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard02_1783/30>, abgerufen am 23.11.2024.
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