man keine Kleider, nicht einmal Schuh und Strüm- pfe dazu hat.
Gertrud. Wenn der Mann nicht unschuldig an seinem Elend wäre, er müßte verzweifeln.
Lienhard. Ja, Gertrud! er müßte verzwei- feln; gewiß, er müßte verzweifeln, Gertrud! Wenn ich meine Kinder so um Brod schreyen hörte, und keines hätte, und Schuld daran wäre, Gertrud! ich müßte verzweifeln; und ich war auf dem Weg zu diesem Elend.
Gertrud. Ja, wir sind aus grossen Gefahren errettet.
Indem sie so redten, kamen sie neben dem Wirthshaus vorbey, und das dumpfe Gewühl der Säufer und Prasser ertönte in ihren Ohren. Dem Lienhard klopfte das Herz schon von ferne; aber ein Schauer durchfuhr ihn und ein banges Ent- setzen, als er sich ihm näherte. Sanft und weh- müthig sah ihn Gertrud jezt an, und beschämt er- wiederte Lienhard den wehmüthigen Anblick seiner Gertrud, und sagte:
O des herrlichen Abends an deiner Seite! und wenn ich jezt auch hier gewesen wäre! So sagt er.
Die Wehmuth der Gertrud wächst jezt zu Thrä- nen, und sie hebt ihre Augen gen Himmel. Er siehts -- Thränen steigen auch ihm in die Augen, und gleiche Wehmuth in das Antlitz, wie seiner Ge- liebten. Auch er hebt seine Augen gen Himmel,
und
man keine Kleider, nicht einmal Schuh und Struͤm- pfe dazu hat.
Gertrud. Wenn der Mann nicht unſchuldig an ſeinem Elend waͤre, er muͤßte verzweifeln.
Lienhard. Ja, Gertrud! er muͤßte verzwei- feln; gewiß, er muͤßte verzweifeln, Gertrud! Wenn ich meine Kinder ſo um Brod ſchreyen hoͤrte, und keines haͤtte, und Schuld daran waͤre, Gertrud! ich muͤßte verzweifeln; und ich war auf dem Weg zu dieſem Elend.
Gertrud. Ja, wir ſind aus groſſen Gefahren errettet.
Indem ſie ſo redten, kamen ſie neben dem Wirthshaus vorbey, und das dumpfe Gewuͤhl der Saͤufer und Praſſer ertoͤnte in ihren Ohren. Dem Lienhard klopfte das Herz ſchon von ferne; aber ein Schauer durchfuhr ihn und ein banges Ent- ſetzen, als er ſich ihm naͤherte. Sanft und weh- muͤthig ſah ihn Gertrud jezt an, und beſchaͤmt er- wiederte Lienhard den wehmuͤthigen Anblick ſeiner Gertrud, und ſagte:
O des herrlichen Abends an deiner Seite! und wenn ich jezt auch hier geweſen waͤre! So ſagt er.
Die Wehmuth der Gertrud waͤchst jezt zu Thraͤ- nen, und ſie hebt ihre Augen gen Himmel. Er ſiehts — Thraͤnen ſteigen auch ihm in die Augen, und gleiche Wehmuth in das Antlitz, wie ſeiner Ge- liebten. Auch er hebt ſeine Augen gen Himmel,
und
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man keine Kleider, nicht einmal Schuh und Struͤm-
pfe dazu hat.
Gertrud. Wenn der Mann nicht unſchuldig
an ſeinem Elend waͤre, er muͤßte verzweifeln.
Lienhard. Ja, Gertrud! er muͤßte verzwei-
feln; gewiß, er muͤßte verzweifeln, Gertrud! Wenn
ich meine Kinder ſo um Brod ſchreyen hoͤrte, und
keines haͤtte, und Schuld daran waͤre, Gertrud! ich
muͤßte verzweifeln; und ich war auf dem Weg zu
dieſem Elend.
Gertrud. Ja, wir ſind aus groſſen Gefahren
errettet.
Indem ſie ſo redten, kamen ſie neben dem
Wirthshaus vorbey, und das dumpfe Gewuͤhl der
Saͤufer und Praſſer ertoͤnte in ihren Ohren. Dem
Lienhard klopfte das Herz ſchon von ferne; aber
ein Schauer durchfuhr ihn und ein banges Ent-
ſetzen, als er ſich ihm naͤherte. Sanft und weh-
muͤthig ſah ihn Gertrud jezt an, und beſchaͤmt er-
wiederte Lienhard den wehmuͤthigen Anblick ſeiner
Gertrud, und ſagte:
O des herrlichen Abends an deiner Seite! und
wenn ich jezt auch hier geweſen waͤre! So ſagt er.
Die Wehmuth der Gertrud waͤchst jezt zu Thraͤ-
nen, und ſie hebt ihre Augen gen Himmel. Er
ſiehts — Thraͤnen ſteigen auch ihm in die Augen,
und gleiche Wehmuth in das Antlitz, wie ſeiner Ge-
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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/217>, abgerufen am 21.11.2024.
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