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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die amerikanische Urbevölkerung.
wendet. Sicherlich sind auch bei jenen Völkern so häufig wie bei
uns Männer von ungewöhnlicher Begabung aufgetreten, allein es
wurden daraus weder Religionsstifter, noch Weltweise, noch Ordner
der Gesellschaft, sondern immer wieder nur gefeierte Jäger, glück-
liche Anführer oder geschätzte Redner bei Volksversammlungen.
Dazu gesellt sich noch, dass die Erbeutung von Wild mit einem
hohen Lebensgenuss verbunden ist, und für die Aufregungen und
Reize der Jagd der Ackerbau keine Entschädigung zu bieten hat.

Suchen wir nun nach dem ursächlichen Zusammenhang zwischen
den Ländergestalten und den Gesittungsstufen, so müssen wir die
Frage lösen, warum wir bei den Bewohnern der Steppen und
Wälder Nordamerika's eine grössere Reife der Gesellschaft wahr-
nehmen, als in Südamerika. Allerdings betrieben auch dort alle
Stämme der Steppen und der Wälder mit äusserst spärlichen Aus-
nahmen, wie etwa die Muras am Amazonenstrom, neben Jagd
und Fischfang auch den Ackerbau. Ihre angebauten Feldfrüchte
waren sogar mannichfaltiger als im Norden, denn zum Mais gesellt
sich noch die Maniocwurzel, die eine sorgfältige Auspressung des
giftigen Saftes verlangt, ehe sie geniessbar wird. Ausserdem
müssen wir der einheimischen Palmenzucht gedenken. Da nun
die Palmen viel später Früchte tragen, als ein- oder zweijährige
Gewächse, so zeigt ihr Anbau eine Vorsorge für ferne Zeiten
und zugleich einen Verzicht auf das Wanderleben. Obendrein hat
sich ergeben, dass die Pupunhabäume (Guilelma speciosa) auf
einigen Gebieten nur kernlose Früchte trugen, folglich musste
diese Palme schon seit einem hohen Alter unter der Zucht des
Menschen gestanden und die kernlose Spielart nicht anders als
durch Wurzelschösslinge vermehrt worden sein. Wenn also die
südamerikanischen Jägerstämme in Bezug auf den Ackerbau den
Nordamerikanern nicht nachstanden, durch ihre Baum- und Haus-
thierzucht sich sogar über sie erhoben, so blieben sie doch in
andern Leistungen weit hinter jenen zurück.

Die rohesten Stämme der Hudsonsbai-Gebiete stehen immer
noch weit höher, als etwa die Botokuden Brasiliens, die in der
neuen Welt auf dem niedrigsten Theilstrich der Gesittung haften
geblieben sind. In ganz Südamerika (natürlich immer die Cordilleren-
völker ausgenommen) war eine starke oder auch gänzliche Ent-
blössung bald des einen, bald des andern, bald beider Geschlechter
die Regel, in Nordamerika ist sie nur Ausnahme. Auch ist es

Die amerikanische Urbevölkerung.
wendet. Sicherlich sind auch bei jenen Völkern so häufig wie bei
uns Männer von ungewöhnlicher Begabung aufgetreten, allein es
wurden daraus weder Religionsstifter, noch Weltweise, noch Ordner
der Gesellschaft, sondern immer wieder nur gefeierte Jäger, glück-
liche Anführer oder geschätzte Redner bei Volksversammlungen.
Dazu gesellt sich noch, dass die Erbeutung von Wild mit einem
hohen Lebensgenuss verbunden ist, und für die Aufregungen und
Reize der Jagd der Ackerbau keine Entschädigung zu bieten hat.

Suchen wir nun nach dem ursächlichen Zusammenhang zwischen
den Ländergestalten und den Gesittungsstufen, so müssen wir die
Frage lösen, warum wir bei den Bewohnern der Steppen und
Wälder Nordamerika’s eine grössere Reife der Gesellschaft wahr-
nehmen, als in Südamerika. Allerdings betrieben auch dort alle
Stämme der Steppen und der Wälder mit äusserst spärlichen Aus-
nahmen, wie etwa die Muras am Amazonenstrom, neben Jagd
und Fischfang auch den Ackerbau. Ihre angebauten Feldfrüchte
waren sogar mannichfaltiger als im Norden, denn zum Mais gesellt
sich noch die Maniocwurzel, die eine sorgfältige Auspressung des
giftigen Saftes verlangt, ehe sie geniessbar wird. Ausserdem
müssen wir der einheimischen Palmenzucht gedenken. Da nun
die Palmen viel später Früchte tragen, als ein- oder zweijährige
Gewächse, so zeigt ihr Anbau eine Vorsorge für ferne Zeiten
und zugleich einen Verzicht auf das Wanderleben. Obendrein hat
sich ergeben, dass die Pupunhabäume (Guilelma speciosa) auf
einigen Gebieten nur kernlose Früchte trugen, folglich musste
diese Palme schon seit einem hohen Alter unter der Zucht des
Menschen gestanden und die kernlose Spielart nicht anders als
durch Wurzelschösslinge vermehrt worden sein. Wenn also die
südamerikanischen Jägerstämme in Bezug auf den Ackerbau den
Nordamerikanern nicht nachstanden, durch ihre Baum- und Haus-
thierzucht sich sogar über sie erhoben, so blieben sie doch in
andern Leistungen weit hinter jenen zurück.

Die rohesten Stämme der Hudsonsbai-Gebiete stehen immer
noch weit höher, als etwa die Botokuden Brasiliens, die in der
neuen Welt auf dem niedrigsten Theilstrich der Gesittung haften
geblieben sind. In ganz Südamerika (natürlich immer die Cordilleren-
völker ausgenommen) war eine starke oder auch gänzliche Ent-
blössung bald des einen, bald des andern, bald beider Geschlechter
die Regel, in Nordamerika ist sie nur Ausnahme. Auch ist es

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[458/0476] Die amerikanische Urbevölkerung. wendet. Sicherlich sind auch bei jenen Völkern so häufig wie bei uns Männer von ungewöhnlicher Begabung aufgetreten, allein es wurden daraus weder Religionsstifter, noch Weltweise, noch Ordner der Gesellschaft, sondern immer wieder nur gefeierte Jäger, glück- liche Anführer oder geschätzte Redner bei Volksversammlungen. Dazu gesellt sich noch, dass die Erbeutung von Wild mit einem hohen Lebensgenuss verbunden ist, und für die Aufregungen und Reize der Jagd der Ackerbau keine Entschädigung zu bieten hat. Suchen wir nun nach dem ursächlichen Zusammenhang zwischen den Ländergestalten und den Gesittungsstufen, so müssen wir die Frage lösen, warum wir bei den Bewohnern der Steppen und Wälder Nordamerika’s eine grössere Reife der Gesellschaft wahr- nehmen, als in Südamerika. Allerdings betrieben auch dort alle Stämme der Steppen und der Wälder mit äusserst spärlichen Aus- nahmen, wie etwa die Muras am Amazonenstrom, neben Jagd und Fischfang auch den Ackerbau. Ihre angebauten Feldfrüchte waren sogar mannichfaltiger als im Norden, denn zum Mais gesellt sich noch die Maniocwurzel, die eine sorgfältige Auspressung des giftigen Saftes verlangt, ehe sie geniessbar wird. Ausserdem müssen wir der einheimischen Palmenzucht gedenken. Da nun die Palmen viel später Früchte tragen, als ein- oder zweijährige Gewächse, so zeigt ihr Anbau eine Vorsorge für ferne Zeiten und zugleich einen Verzicht auf das Wanderleben. Obendrein hat sich ergeben, dass die Pupunhabäume (Guilelma speciosa) auf einigen Gebieten nur kernlose Früchte trugen, folglich musste diese Palme schon seit einem hohen Alter unter der Zucht des Menschen gestanden und die kernlose Spielart nicht anders als durch Wurzelschösslinge vermehrt worden sein. Wenn also die südamerikanischen Jägerstämme in Bezug auf den Ackerbau den Nordamerikanern nicht nachstanden, durch ihre Baum- und Haus- thierzucht sich sogar über sie erhoben, so blieben sie doch in andern Leistungen weit hinter jenen zurück. Die rohesten Stämme der Hudsonsbai-Gebiete stehen immer noch weit höher, als etwa die Botokuden Brasiliens, die in der neuen Welt auf dem niedrigsten Theilstrich der Gesittung haften geblieben sind. In ganz Südamerika (natürlich immer die Cordilleren- völker ausgenommen) war eine starke oder auch gänzliche Ent- blössung bald des einen, bald des andern, bald beider Geschlechter die Regel, in Nordamerika ist sie nur Ausnahme. Auch ist es

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/476>, abgerufen am 05.05.2024.