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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die mongolenähnlichen Völker im Norden der alten Welt.
Krewinen, die auf 2000 Köpfe zusammengeschmolzenen Liven,
ebenfalls in Kurland am Gestade des Meerbusens von Riga, und
die noch zahlreichen und geschlossen sitzenden Ehsten. Ver-
schwistert dem Blute nach mit diesen Stämmen sind die Lappen
oder Kwänen Scandinaviens und Russlands, deren Sprache nach
dem Urtheile Castren's noch vor 2000 Jahren dieselbe war,
wie die der Suomi. Erst sehr spät sind sie in ihre jetzigen Wohn-
sitze eingewandert 1).

Die Blutsverwandtschaft der finnischen Gruppe mit den Völ-
kern des mongolischen Astes ist bei den Wogulen am deutlichsten
zu erkennen, denn sie nähern sich weit mehr als die Ostjaken
den Kalmüken 2). Selbst unter den Lappen Norwegens erkannte
aber Carl Vogt in den schmal geschlitzten, jedoch horizontal ge-
stellten Augen, den breiten Backenknochen, dem weiten Mund,
der abgestumpften Nase und der gelblichen Gesichtsfarbe die
Wahrzeichen der mongolischen Race wieder 3). Von den teuto-
nischen und slavischen Nachbarn haben die Ostseefinnen eine An-
zahl Wörter für Culturwerkzeuge und mit den Worten auch die
Gegenstände selbst entlehnt. Daraus lässt sich ein Bild von ihren
Zuständen vor Empfang jener Hilfsmittel entwerfen. Als Haus-
thiere züchteten sie nur den Hund, das Ross und das Rind; von
Getreidearten bauten sie nur die Gerste. Im Sommer lebten sie
in Lederzelten, im Winter in halbunterirdischen Jurten, wie alle
Polarvölker der alten Welt. Demnach können die heutigen Ost-
jaken und Wogulen uns noch jetzt ein Gemälde gewähren, wie
die Zustände ihrer westlichen Geschwister in der Vorzeit beschaffen
waren 4). Leider reichen die ältesten Sprachdenkmäler der Ostsee-
finnen nicht über das Jahr 1542. Ihre epischen Dichtungen aber,
die im Kalevala gesammelt vorliegen, gehören sicherlich, wenigstens
in der jetzigen Fassung, einer sehr nahen Vergangenheit an.
Während die mongolischen und tungusischen Sprachen reiner aber
auch dürftiger geblieben sind, das Mandschu sogar sich wenig
von einsylbiger Steifheit entfernt, haben sich unter der ugrischen

1) Ujfalvy, Migrations des peuples touraniens. p. 118--120.
2) Castren, Vorlesungen. S. 128.
3) C. Vogt, Nord-Fahrt. Frankfurt 1863. S. 166.
4) Prof. Ahlquist über die Culturwörter in den westfinnischen Sprachen.
Ausland 1871. No. 31. S. 741 ff.

Die mongolenähnlichen Völker im Norden der alten Welt.
Krewinen, die auf 2000 Köpfe zusammengeschmolzenen Liven,
ebenfalls in Kurland am Gestade des Meerbusens von Riga, und
die noch zahlreichen und geschlossen sitzenden Ehsten. Ver-
schwistert dem Blute nach mit diesen Stämmen sind die Lappen
oder Kwänen Scandinaviens und Russlands, deren Sprache nach
dem Urtheile Castrén’s noch vor 2000 Jahren dieselbe war,
wie die der Suomi. Erst sehr spät sind sie in ihre jetzigen Wohn-
sitze eingewandert 1).

Die Blutsverwandtschaft der finnischen Gruppe mit den Völ-
kern des mongolischen Astes ist bei den Wogulen am deutlichsten
zu erkennen, denn sie nähern sich weit mehr als die Ostjaken
den Kalmüken 2). Selbst unter den Lappen Norwegens erkannte
aber Carl Vogt in den schmal geschlitzten, jedoch horizontal ge-
stellten Augen, den breiten Backenknochen, dem weiten Mund,
der abgestumpften Nase und der gelblichen Gesichtsfarbe die
Wahrzeichen der mongolischen Race wieder 3). Von den teuto-
nischen und slavischen Nachbarn haben die Ostseefinnen eine An-
zahl Wörter für Culturwerkzeuge und mit den Worten auch die
Gegenstände selbst entlehnt. Daraus lässt sich ein Bild von ihren
Zuständen vor Empfang jener Hilfsmittel entwerfen. Als Haus-
thiere züchteten sie nur den Hund, das Ross und das Rind; von
Getreidearten bauten sie nur die Gerste. Im Sommer lebten sie
in Lederzelten, im Winter in halbunterirdischen Jurten, wie alle
Polarvölker der alten Welt. Demnach können die heutigen Ost-
jaken und Wogulen uns noch jetzt ein Gemälde gewähren, wie
die Zustände ihrer westlichen Geschwister in der Vorzeit beschaffen
waren 4). Leider reichen die ältesten Sprachdenkmäler der Ostsee-
finnen nicht über das Jahr 1542. Ihre epischen Dichtungen aber,
die im Kalevala gesammelt vorliegen, gehören sicherlich, wenigstens
in der jetzigen Fassung, einer sehr nahen Vergangenheit an.
Während die mongolischen und tungusischen Sprachen reiner aber
auch dürftiger geblieben sind, das Mandschu sogar sich wenig
von einsylbiger Steifheit entfernt, haben sich unter der ugrischen

1) Ujfalvy, Migrations des peuples touraniens. p. 118—120.
2) Castrén, Vorlesungen. S. 128.
3) C. Vogt, Nord-Fahrt. Frankfurt 1863. S. 166.
4) Prof. Ahlquist über die Culturwörter in den westfinnischen Sprachen.
Ausland 1871. No. 31. S. 741 ff.
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[411/0429] Die mongolenähnlichen Völker im Norden der alten Welt. Krewinen, die auf 2000 Köpfe zusammengeschmolzenen Liven, ebenfalls in Kurland am Gestade des Meerbusens von Riga, und die noch zahlreichen und geschlossen sitzenden Ehsten. Ver- schwistert dem Blute nach mit diesen Stämmen sind die Lappen oder Kwänen Scandinaviens und Russlands, deren Sprache nach dem Urtheile Castrén’s noch vor 2000 Jahren dieselbe war, wie die der Suomi. Erst sehr spät sind sie in ihre jetzigen Wohn- sitze eingewandert 1). Die Blutsverwandtschaft der finnischen Gruppe mit den Völ- kern des mongolischen Astes ist bei den Wogulen am deutlichsten zu erkennen, denn sie nähern sich weit mehr als die Ostjaken den Kalmüken 2). Selbst unter den Lappen Norwegens erkannte aber Carl Vogt in den schmal geschlitzten, jedoch horizontal ge- stellten Augen, den breiten Backenknochen, dem weiten Mund, der abgestumpften Nase und der gelblichen Gesichtsfarbe die Wahrzeichen der mongolischen Race wieder 3). Von den teuto- nischen und slavischen Nachbarn haben die Ostseefinnen eine An- zahl Wörter für Culturwerkzeuge und mit den Worten auch die Gegenstände selbst entlehnt. Daraus lässt sich ein Bild von ihren Zuständen vor Empfang jener Hilfsmittel entwerfen. Als Haus- thiere züchteten sie nur den Hund, das Ross und das Rind; von Getreidearten bauten sie nur die Gerste. Im Sommer lebten sie in Lederzelten, im Winter in halbunterirdischen Jurten, wie alle Polarvölker der alten Welt. Demnach können die heutigen Ost- jaken und Wogulen uns noch jetzt ein Gemälde gewähren, wie die Zustände ihrer westlichen Geschwister in der Vorzeit beschaffen waren 4). Leider reichen die ältesten Sprachdenkmäler der Ostsee- finnen nicht über das Jahr 1542. Ihre epischen Dichtungen aber, die im Kalevala gesammelt vorliegen, gehören sicherlich, wenigstens in der jetzigen Fassung, einer sehr nahen Vergangenheit an. Während die mongolischen und tungusischen Sprachen reiner aber auch dürftiger geblieben sind, das Mandschu sogar sich wenig von einsylbiger Steifheit entfernt, haben sich unter der ugrischen 1) Ujfalvy, Migrations des peuples touraniens. p. 118—120. 2) Castrén, Vorlesungen. S. 128. 3) C. Vogt, Nord-Fahrt. Frankfurt 1863. S. 166. 4) Prof. Ahlquist über die Culturwörter in den westfinnischen Sprachen. Ausland 1871. No. 31. S. 741 ff.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 411. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/429>, abgerufen am 28.04.2024.