Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

Bild:
<< vorherige Seite

Die mongolenähnlichen Völker im Norden der alten Welt.
bulgaren ihre Sprache schon im zehnten Jahrhundert, ihre Selbst-
ständigkeit am Anfang des elften ein 1). Andere Bruchtheile des
Bulgarenthumes sind die inselartig an der Wolga von Russen ein-
geschlossenen Gebiete der Tscheremissen, Mordwinen und Tschu-
waschen. Der Name der Tscheremissen bedeutet in der Mordwa-
sprache die Oestlichen. Die Mordwinen selbst nennen sich wieder
im Osten Mokschanen und im Westen Ersanen. Ruysbroek hat
sie Moxel, Merdas und Merduas, Herberstein Mordva genannt.
Bei ihnen wird noch jetzt ein mehr oder weniger verstecktes
Heidenthum angetroffen 2), und wegen dieser Alterthümlichkeiten
sind sie ein anziehender Gegenstand für den Völkerkundigen
geblieben.

Der permische Zweig hat seinen Namen von den Permiern
erhalten, die an den Gewässern der Kama, im Bjarmaland, nach
altscandinavischer Sprechweise wohnten. Als Geschwister gehören
zu ihnen die Sirjänen, weiter nördlich dem Eismeere zu, und die
Wotjaken am Nordufer der Wjatka, welche letztere sich aber selbst
Udy oder Ut-murt nennen.

Der vierte oder eigentlich finnische Zweig hatte sich über die
nördlichen und östlichen Gestade des baltischen Meeres verbreitet
und von deutschen Nachbarn seinen europäischen Namen erhalten,
der mit Veen oder Torf und Hochmoor zusammenhängt 3). Nennen
sie doch ihre Heimath Suomi oder Sumpf- und Seenland, sich
selbst aber Suomalaisia 4). Es unterliegt keinem Zweifel mehr,
dass Tacitus und Ptolemäus jene Völkerschaften unter den Namen
Fenni und Phinni ungefähr in ihren heutigen Wohnsitzen gekannt
haben 5). Ihren Mundarten nach zerfallen sie in die Suomi am
finnischen und bothnischen Meerbusen, die nachbarlichen Karelen,
die Wepsen oder Nordtschuden am Südwestufer des Ladogasees,
die Woten oder Südtschuden nordöstlich von der Stadt Narwa,
beide im Aussterben begriffen, die seit 1846 in Kurland erloschenen

1) Robert Roesler, Romänische Studien. Leipzig 1871. S. 239.
2) v. Haxthausen, Studien über Russland. Bd. 2. S. 16.
3) H. Guthe, die Lande Braunschweig und Hannover. S. 62.
4) Prof. Hjelt in den Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für An-
thropologie. 1872. S. 117. Neuerdings ist diese Ableitung von Sjögren be-
stritten und der Eigenname der Finnen als vorläufig unerklärt hingestellt
worden.
5) Forbiger, Alte Geographie. Bd. 3. S. 1124.

Die mongolenähnlichen Völker im Norden der alten Welt.
bulgaren ihre Sprache schon im zehnten Jahrhundert, ihre Selbst-
ständigkeit am Anfang des elften ein 1). Andere Bruchtheile des
Bulgarenthumes sind die inselartig an der Wolga von Russen ein-
geschlossenen Gebiete der Tscheremissen, Mordwinen und Tschu-
waschen. Der Name der Tscheremissen bedeutet in der Mordwa-
sprache die Oestlichen. Die Mordwinen selbst nennen sich wieder
im Osten Mokschanen und im Westen Ersanen. Ruysbroek hat
sie Moxel, Merdas und Merduas, Herberstein Mordva genannt.
Bei ihnen wird noch jetzt ein mehr oder weniger verstecktes
Heidenthum angetroffen 2), und wegen dieser Alterthümlichkeiten
sind sie ein anziehender Gegenstand für den Völkerkundigen
geblieben.

Der permische Zweig hat seinen Namen von den Permiern
erhalten, die an den Gewässern der Kama, im Bjarmaland, nach
altscandinavischer Sprechweise wohnten. Als Geschwister gehören
zu ihnen die Sirjänen, weiter nördlich dem Eismeere zu, und die
Wotjaken am Nordufer der Wjatka, welche letztere sich aber selbst
Udy oder Ut-murt nennen.

Der vierte oder eigentlich finnische Zweig hatte sich über die
nördlichen und östlichen Gestade des baltischen Meeres verbreitet
und von deutschen Nachbarn seinen europäischen Namen erhalten,
der mit Veen oder Torf und Hochmoor zusammenhängt 3). Nennen
sie doch ihre Heimath Suomi oder Sumpf- und Seenland, sich
selbst aber Suomalaisia 4). Es unterliegt keinem Zweifel mehr,
dass Tacitus und Ptolemäus jene Völkerschaften unter den Namen
Fenni und Phinni ungefähr in ihren heutigen Wohnsitzen gekannt
haben 5). Ihren Mundarten nach zerfallen sie in die Suomi am
finnischen und bothnischen Meerbusen, die nachbarlichen Karelen,
die Wepsen oder Nordtschuden am Südwestufer des Ladogasees,
die Woten oder Südtschuden nordöstlich von der Stadt Narwa,
beide im Aussterben begriffen, die seit 1846 in Kurland erloschenen

1) Robert Roesler, Romänische Studien. Leipzig 1871. S. 239.
2) v. Haxthausen, Studien über Russland. Bd. 2. S. 16.
3) H. Guthe, die Lande Braunschweig und Hannover. S. 62.
4) Prof. Hjelt in den Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für An-
thropologie. 1872. S. 117. Neuerdings ist diese Ableitung von Sjögren be-
stritten und der Eigenname der Finnen als vorläufig unerklärt hingestellt
worden.
5) Forbiger, Alte Geographie. Bd. 3. S. 1124.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0428" n="410"/><fw place="top" type="header">Die mongolenähnlichen Völker im Norden der alten Welt.</fw><lb/>
bulgaren ihre Sprache schon im zehnten Jahrhundert, ihre Selbst-<lb/>
ständigkeit am Anfang des elften ein <note place="foot" n="1)"><hi rendition="#g">Robert Roesler</hi>, Romänische Studien. Leipzig 1871. S. 239.</note>. Andere Bruchtheile des<lb/>
Bulgarenthumes sind die inselartig an der Wolga von Russen ein-<lb/>
geschlossenen Gebiete der Tscheremissen, Mordwinen und Tschu-<lb/>
waschen. Der Name der Tscheremissen bedeutet in der Mordwa-<lb/>
sprache die Oestlichen. Die Mordwinen selbst nennen sich wieder<lb/>
im Osten Mokschanen und im Westen Ersanen. Ruysbroek hat<lb/>
sie Moxel, Merdas und Merduas, Herberstein Mordva genannt.<lb/>
Bei ihnen wird noch jetzt ein mehr oder weniger verstecktes<lb/>
Heidenthum angetroffen <note place="foot" n="2)">v. <hi rendition="#g">Haxthausen</hi>, Studien über Russland. Bd. 2. S. 16.</note>, und wegen dieser Alterthümlichkeiten<lb/>
sind sie ein anziehender Gegenstand für den Völkerkundigen<lb/>
geblieben.</p><lb/>
            <p>Der permische Zweig hat seinen Namen von den Permiern<lb/>
erhalten, die an den Gewässern der Kama, im Bjarmaland, nach<lb/>
altscandinavischer Sprechweise wohnten. Als Geschwister gehören<lb/>
zu ihnen die Sirjänen, weiter nördlich dem Eismeere zu, und die<lb/>
Wotjaken am Nordufer der Wjatka, welche letztere sich aber selbst<lb/>
Udy oder Ut-murt nennen.</p><lb/>
            <p>Der vierte oder eigentlich finnische Zweig hatte sich über die<lb/>
nördlichen und östlichen Gestade des baltischen Meeres verbreitet<lb/>
und von deutschen Nachbarn seinen europäischen Namen erhalten,<lb/>
der mit Veen oder Torf und Hochmoor zusammenhängt <note place="foot" n="3)">H. <hi rendition="#g">Guthe</hi>, die Lande Braunschweig und Hannover. S. 62.</note>. Nennen<lb/>
sie doch ihre Heimath Suomi oder Sumpf- und Seenland, sich<lb/>
selbst aber Suomalaisia <note place="foot" n="4)">Prof. <hi rendition="#g">Hjelt</hi> in den Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für An-<lb/>
thropologie. 1872. S. 117. Neuerdings ist diese Ableitung von <hi rendition="#g">Sjögren</hi> be-<lb/>
stritten und der Eigenname der Finnen als vorläufig unerklärt hingestellt<lb/>
worden.</note>. Es unterliegt keinem Zweifel mehr,<lb/>
dass Tacitus und Ptolemäus jene Völkerschaften unter den Namen<lb/>
Fenni und Phinni ungefähr in ihren heutigen Wohnsitzen gekannt<lb/>
haben <note place="foot" n="5)"><hi rendition="#g">Forbiger</hi>, Alte Geographie. Bd. 3. S. 1124.</note>. Ihren Mundarten nach zerfallen sie in die Suomi am<lb/>
finnischen und bothnischen Meerbusen, die nachbarlichen Karelen,<lb/>
die Wepsen oder Nordtschuden am Südwestufer des Ladogasees,<lb/>
die Woten oder Südtschuden nordöstlich von der Stadt Narwa,<lb/>
beide im Aussterben begriffen, die seit 1846 in Kurland erloschenen<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[410/0428] Die mongolenähnlichen Völker im Norden der alten Welt. bulgaren ihre Sprache schon im zehnten Jahrhundert, ihre Selbst- ständigkeit am Anfang des elften ein 1). Andere Bruchtheile des Bulgarenthumes sind die inselartig an der Wolga von Russen ein- geschlossenen Gebiete der Tscheremissen, Mordwinen und Tschu- waschen. Der Name der Tscheremissen bedeutet in der Mordwa- sprache die Oestlichen. Die Mordwinen selbst nennen sich wieder im Osten Mokschanen und im Westen Ersanen. Ruysbroek hat sie Moxel, Merdas und Merduas, Herberstein Mordva genannt. Bei ihnen wird noch jetzt ein mehr oder weniger verstecktes Heidenthum angetroffen 2), und wegen dieser Alterthümlichkeiten sind sie ein anziehender Gegenstand für den Völkerkundigen geblieben. Der permische Zweig hat seinen Namen von den Permiern erhalten, die an den Gewässern der Kama, im Bjarmaland, nach altscandinavischer Sprechweise wohnten. Als Geschwister gehören zu ihnen die Sirjänen, weiter nördlich dem Eismeere zu, und die Wotjaken am Nordufer der Wjatka, welche letztere sich aber selbst Udy oder Ut-murt nennen. Der vierte oder eigentlich finnische Zweig hatte sich über die nördlichen und östlichen Gestade des baltischen Meeres verbreitet und von deutschen Nachbarn seinen europäischen Namen erhalten, der mit Veen oder Torf und Hochmoor zusammenhängt 3). Nennen sie doch ihre Heimath Suomi oder Sumpf- und Seenland, sich selbst aber Suomalaisia 4). Es unterliegt keinem Zweifel mehr, dass Tacitus und Ptolemäus jene Völkerschaften unter den Namen Fenni und Phinni ungefähr in ihren heutigen Wohnsitzen gekannt haben 5). Ihren Mundarten nach zerfallen sie in die Suomi am finnischen und bothnischen Meerbusen, die nachbarlichen Karelen, die Wepsen oder Nordtschuden am Südwestufer des Ladogasees, die Woten oder Südtschuden nordöstlich von der Stadt Narwa, beide im Aussterben begriffen, die seit 1846 in Kurland erloschenen 1) Robert Roesler, Romänische Studien. Leipzig 1871. S. 239. 2) v. Haxthausen, Studien über Russland. Bd. 2. S. 16. 3) H. Guthe, die Lande Braunschweig und Hannover. S. 62. 4) Prof. Hjelt in den Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für An- thropologie. 1872. S. 117. Neuerdings ist diese Ableitung von Sjögren be- stritten und der Eigenname der Finnen als vorläufig unerklärt hingestellt worden. 5) Forbiger, Alte Geographie. Bd. 3. S. 1124.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/428
Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/428>, abgerufen am 27.04.2024.