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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die mongolenähnlichen Völker im Norden der alten Welt.
werden. Allein die frühe Gesittung der alten Uiguren und die
bürgerliche Tüchtigkeit der Jakuten zwingt uns zur Anerkennung,
dass auch in den rein gebliebenen türkischen Stämmen früh alle
nothwendigen Anlagen zu den höheren Gesellschaftsformen vor-
handen waren. Die Erfindung des Lederzeltes und der Filz-
bereitung, die Zucht der Rosse als Milchthiere, die Zähmung der
Schafe mit Fettschwänzen und vielleicht des bactrischen Kamels
sind Leistungen, die wir wahrscheinlich nach Centralasien und
zugleich in ein hohes Alterthum zu verlegen haben. Nur ist es
schwer zu sagen, welchem Zweige unter den Nordasiaten diese
Verbesserungen des menschlichen Haushaltes zum Verdienst an-
zurechnen sind.

Die vierte Abtheilung, mit der wir uns jetzt zu beschäftigen
haben, sind die Völker der gliederreichen finnischen Gruppe, die
sich wieder in vier Zweige, nämlich in den ugrischen, bulgarischen,
permischen und im engern Sinne finnischen gliedert. Ihre Ursitze
lagen zum Theil östlicher und südlicher als gegenwärtig im Ural
und im Altai, weshalb auch der gesammte Stamm vielfach als
Ural-Altaier bezeichnet wird 1). Als Ugrier vereinigte Castren die
Ostjaken am rechten Ufer des Ob, die Wogulen am Ostabhang
des nördlichen Ural und die Magyaren. Dass die letzteren zur
finnischen Familie gehören, wurde schon von Sajnovics, einem
Reisebegleiter des P. Hell, vor hundert Jahren nachgewiesen 2) und
über die Stellung ihrer Sprache hat kürzlich wieder eine ver-
gleichende Grammatik nähere Aufschlüsse gegeben 3). Zu dem
bulgarischen Zweig sind nicht mehr die Bulgaren an der Donau
zu rechnen, denn sie gehören der Sprache und den körperlichen
Wahrzeichen nach zur slavischen Familie, haben auch völlig die
Reste der ehemaligen Bulgaren des Mittelalters in sich aufgesogen.
Während nämlich die Wolgabulgaren ihren Staat bis zum 13. Jahr-
hundert und ihre Nationalität bis zur bleibenden Unterwerfung
unter die Czaren von Moskau behaupteten, büssten die Donau-

1) Vgl. die Wanderkarten bei Ujfalvy, Migrations des peuples
touraniens. Paris 1873. p. 120. p. 130.
2) Saijnovics schrieb 1770 ein Buch unter dem Titel: Idioma Unga-
rorum et Lapponum idem esse.
3) Michael Weske, Untersuchungen zur vergleichenden Grammatik
des finnischen Sprachstammes. Leipzig 1872.

Die mongolenähnlichen Völker im Norden der alten Welt.
werden. Allein die frühe Gesittung der alten Uiguren und die
bürgerliche Tüchtigkeit der Jakuten zwingt uns zur Anerkennung,
dass auch in den rein gebliebenen türkischen Stämmen früh alle
nothwendigen Anlagen zu den höheren Gesellschaftsformen vor-
handen waren. Die Erfindung des Lederzeltes und der Filz-
bereitung, die Zucht der Rosse als Milchthiere, die Zähmung der
Schafe mit Fettschwänzen und vielleicht des bactrischen Kamels
sind Leistungen, die wir wahrscheinlich nach Centralasien und
zugleich in ein hohes Alterthum zu verlegen haben. Nur ist es
schwer zu sagen, welchem Zweige unter den Nordasiaten diese
Verbesserungen des menschlichen Haushaltes zum Verdienst an-
zurechnen sind.

Die vierte Abtheilung, mit der wir uns jetzt zu beschäftigen
haben, sind die Völker der gliederreichen finnischen Gruppe, die
sich wieder in vier Zweige, nämlich in den ugrischen, bulgarischen,
permischen und im engern Sinne finnischen gliedert. Ihre Ursitze
lagen zum Theil östlicher und südlicher als gegenwärtig im Ural
und im Altai, weshalb auch der gesammte Stamm vielfach als
Ural-Altaier bezeichnet wird 1). Als Ugrier vereinigte Castrén die
Ostjaken am rechten Ufer des Ob, die Wogulen am Ostabhang
des nördlichen Ural und die Magyaren. Dass die letzteren zur
finnischen Familie gehören, wurde schon von Sajnovics, einem
Reisebegleiter des P. Hell, vor hundert Jahren nachgewiesen 2) und
über die Stellung ihrer Sprache hat kürzlich wieder eine ver-
gleichende Grammatik nähere Aufschlüsse gegeben 3). Zu dem
bulgarischen Zweig sind nicht mehr die Bulgaren an der Donau
zu rechnen, denn sie gehören der Sprache und den körperlichen
Wahrzeichen nach zur slavischen Familie, haben auch völlig die
Reste der ehemaligen Bulgaren des Mittelalters in sich aufgesogen.
Während nämlich die Wolgabulgaren ihren Staat bis zum 13. Jahr-
hundert und ihre Nationalität bis zur bleibenden Unterwerfung
unter die Czaren von Moskau behaupteten, büssten die Donau-

1) Vgl. die Wanderkarten bei Ujfalvy, Migrations des peuples
touraniens. Paris 1873. p. 120. p. 130.
2) Saijnovics schrieb 1770 ein Buch unter dem Titel: Idioma Unga-
rorum et Lapponum idem esse.
3) Michael Weske, Untersuchungen zur vergleichenden Grammatik
des finnischen Sprachstammes. Leipzig 1872.
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[409/0427] Die mongolenähnlichen Völker im Norden der alten Welt. werden. Allein die frühe Gesittung der alten Uiguren und die bürgerliche Tüchtigkeit der Jakuten zwingt uns zur Anerkennung, dass auch in den rein gebliebenen türkischen Stämmen früh alle nothwendigen Anlagen zu den höheren Gesellschaftsformen vor- handen waren. Die Erfindung des Lederzeltes und der Filz- bereitung, die Zucht der Rosse als Milchthiere, die Zähmung der Schafe mit Fettschwänzen und vielleicht des bactrischen Kamels sind Leistungen, die wir wahrscheinlich nach Centralasien und zugleich in ein hohes Alterthum zu verlegen haben. Nur ist es schwer zu sagen, welchem Zweige unter den Nordasiaten diese Verbesserungen des menschlichen Haushaltes zum Verdienst an- zurechnen sind. Die vierte Abtheilung, mit der wir uns jetzt zu beschäftigen haben, sind die Völker der gliederreichen finnischen Gruppe, die sich wieder in vier Zweige, nämlich in den ugrischen, bulgarischen, permischen und im engern Sinne finnischen gliedert. Ihre Ursitze lagen zum Theil östlicher und südlicher als gegenwärtig im Ural und im Altai, weshalb auch der gesammte Stamm vielfach als Ural-Altaier bezeichnet wird 1). Als Ugrier vereinigte Castrén die Ostjaken am rechten Ufer des Ob, die Wogulen am Ostabhang des nördlichen Ural und die Magyaren. Dass die letzteren zur finnischen Familie gehören, wurde schon von Sajnovics, einem Reisebegleiter des P. Hell, vor hundert Jahren nachgewiesen 2) und über die Stellung ihrer Sprache hat kürzlich wieder eine ver- gleichende Grammatik nähere Aufschlüsse gegeben 3). Zu dem bulgarischen Zweig sind nicht mehr die Bulgaren an der Donau zu rechnen, denn sie gehören der Sprache und den körperlichen Wahrzeichen nach zur slavischen Familie, haben auch völlig die Reste der ehemaligen Bulgaren des Mittelalters in sich aufgesogen. Während nämlich die Wolgabulgaren ihren Staat bis zum 13. Jahr- hundert und ihre Nationalität bis zur bleibenden Unterwerfung unter die Czaren von Moskau behaupteten, büssten die Donau- 1) Vgl. die Wanderkarten bei Ujfalvy, Migrations des peuples touraniens. Paris 1873. p. 120. p. 130. 2) Saijnovics schrieb 1770 ein Buch unter dem Titel: Idioma Unga- rorum et Lapponum idem esse. 3) Michael Weske, Untersuchungen zur vergleichenden Grammatik des finnischen Sprachstammes. Leipzig 1872.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 409. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/427>, abgerufen am 28.04.2024.