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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft.
Nordamerika's. Ohne sichtbare Beherrscher, sagt er, geniessen
sie alle Vortheile einer wohlgeordneten Regierung. Hirten-
stämme treffen wir meistens unter patriarchalischen Häuptern,
denn die Heerden gehören gewöhnlich nur einem Herrn, dem als
Gesinde seine Stammesangehörigen oder ehemalig unabhängige,
später verarmte Heerdenbesitzer dienstbar geworden sind. Dem
Hirtenleben sind vorzugsweise, wenn auch nicht ausschliesslich die
grossen Völkerbewegungen eigen, sowohl im Norden der Alten
Welt wie in Südafrika, die Geschichte Amerikas kennt dagegen
nur Einbrüche von rohen Jägerstämmen in die lockenden Gefilde
von Culturvölkern. Dass ganze Völkerschaften ihre bisherigen
Wohnstätten abbrechen, vorwärts drängen und grosse Erdräume
durchwandern, ist überhaupt nur denkbar in Begleitung von Heerden,
welche auf dem Marsche die nöthige Nahrung gewähren. Die
Viehzucht auf Steppen nöthigt ohnehin zum Wechsel der Weide-
plätze. Mit dem Sesshaftwerden und dem Ackerbau regt sich aber
sogleich die Begierde nach Sklavenarbeit. Jäger, die nur unter
beständiger Anstrengung sich und ihre Familien ernähren, können
Unfreie nicht in ihrem Hausstande verwenden. Anders verhält es
sich schon, wo Fischfang betrieben wird, denn dann treffen wir
hin und wieder schon Sklaverei, wie an der Nordwestküste Ame-
rikas bei den Kodjaken und Koluschen, sowie bei den Aht der
Vancouverinsel1), welche letztere, beiläufig bemerkt, ihren Leibeigenen
das Haar kurz scheeren. Früher oder später führt die Sklaverei
stets zur Willkürherrschaft, denn derjenige, welcher die grösste An-
zahl Sklaven besitzt, wird mit ihrem Beistande leicht alle Schwächeren
unterdrücken. Sklaverei ist die Regel in ganz Mittelafrika, daher
auch dort, wohin wir blicken, nur Despotien auf den Trümmern
von Despotien erwachsen sind.

Mit der Unterscheidung von Freien und Unfreien gliedert sich
die Gesellschaft in Stände und selbst unter Negern, wenn auch
selten, wie an der Goldküste oder im Congolande entsteht ein
Adel2). Das gleiche geschieht dort, wo eine erobernde Race sich

1) Waitz, Anthropologie Bd 3. S. 313, 329 und Sproat im Anthropol.
Review. London 1868. tom. VI, p. 369. Selbst bei den Botocuden will man
kriegsgefangene Sklaven gesehen haben. Prinz zu Neuwied, Reise nach
Brasilien. Frankfurt 1821. Bd. 2. S. 45.
2) Antonio Zucchelli, Missione di Congo. Venezia 1712. IX, 7. p. 148.

Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft.
Nordamerika’s. Ohne sichtbare Beherrscher, sagt er, geniessen
sie alle Vortheile einer wohlgeordneten Regierung. Hirten-
stämme treffen wir meistens unter patriarchalischen Häuptern,
denn die Heerden gehören gewöhnlich nur einem Herrn, dem als
Gesinde seine Stammesangehörigen oder ehemalig unabhängige,
später verarmte Heerdenbesitzer dienstbar geworden sind. Dem
Hirtenleben sind vorzugsweise, wenn auch nicht ausschliesslich die
grossen Völkerbewegungen eigen, sowohl im Norden der Alten
Welt wie in Südafrika, die Geschichte Amerikas kennt dagegen
nur Einbrüche von rohen Jägerstämmen in die lockenden Gefilde
von Culturvölkern. Dass ganze Völkerschaften ihre bisherigen
Wohnstätten abbrechen, vorwärts drängen und grosse Erdräume
durchwandern, ist überhaupt nur denkbar in Begleitung von Heerden,
welche auf dem Marsche die nöthige Nahrung gewähren. Die
Viehzucht auf Steppen nöthigt ohnehin zum Wechsel der Weide-
plätze. Mit dem Sesshaftwerden und dem Ackerbau regt sich aber
sogleich die Begierde nach Sklavenarbeit. Jäger, die nur unter
beständiger Anstrengung sich und ihre Familien ernähren, können
Unfreie nicht in ihrem Hausstande verwenden. Anders verhält es
sich schon, wo Fischfang betrieben wird, denn dann treffen wir
hin und wieder schon Sklaverei, wie an der Nordwestküste Ame-
rikas bei den Kodjaken und Koluschen, sowie bei den Aht der
Vancouverinsel1), welche letztere, beiläufig bemerkt, ihren Leibeigenen
das Haar kurz scheeren. Früher oder später führt die Sklaverei
stets zur Willkürherrschaft, denn derjenige, welcher die grösste An-
zahl Sklaven besitzt, wird mit ihrem Beistande leicht alle Schwächeren
unterdrücken. Sklaverei ist die Regel in ganz Mittelafrika, daher
auch dort, wohin wir blicken, nur Despotien auf den Trümmern
von Despotien erwachsen sind.

Mit der Unterscheidung von Freien und Unfreien gliedert sich
die Gesellschaft in Stände und selbst unter Negern, wenn auch
selten, wie an der Goldküste oder im Congolande entsteht ein
Adel2). Das gleiche geschieht dort, wo eine erobernde Race sich

1) Waitz, Anthropologie Bd 3. S. 313, 329 und Sproat im Anthropol.
Review. London 1868. tom. VI, p. 369. Selbst bei den Botocuden will man
kriegsgefangene Sklaven gesehen haben. Prinz zu Neuwied, Reise nach
Brasilien. Frankfurt 1821. Bd. 2. S. 45.
2) Antonio Zucchelli, Missione di Congo. Venezia 1712. IX, 7. p. 148.
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[253/0271] Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft. Nordamerika’s. Ohne sichtbare Beherrscher, sagt er, geniessen sie alle Vortheile einer wohlgeordneten Regierung. Hirten- stämme treffen wir meistens unter patriarchalischen Häuptern, denn die Heerden gehören gewöhnlich nur einem Herrn, dem als Gesinde seine Stammesangehörigen oder ehemalig unabhängige, später verarmte Heerdenbesitzer dienstbar geworden sind. Dem Hirtenleben sind vorzugsweise, wenn auch nicht ausschliesslich die grossen Völkerbewegungen eigen, sowohl im Norden der Alten Welt wie in Südafrika, die Geschichte Amerikas kennt dagegen nur Einbrüche von rohen Jägerstämmen in die lockenden Gefilde von Culturvölkern. Dass ganze Völkerschaften ihre bisherigen Wohnstätten abbrechen, vorwärts drängen und grosse Erdräume durchwandern, ist überhaupt nur denkbar in Begleitung von Heerden, welche auf dem Marsche die nöthige Nahrung gewähren. Die Viehzucht auf Steppen nöthigt ohnehin zum Wechsel der Weide- plätze. Mit dem Sesshaftwerden und dem Ackerbau regt sich aber sogleich die Begierde nach Sklavenarbeit. Jäger, die nur unter beständiger Anstrengung sich und ihre Familien ernähren, können Unfreie nicht in ihrem Hausstande verwenden. Anders verhält es sich schon, wo Fischfang betrieben wird, denn dann treffen wir hin und wieder schon Sklaverei, wie an der Nordwestküste Ame- rikas bei den Kodjaken und Koluschen, sowie bei den Aht der Vancouverinsel 1), welche letztere, beiläufig bemerkt, ihren Leibeigenen das Haar kurz scheeren. Früher oder später führt die Sklaverei stets zur Willkürherrschaft, denn derjenige, welcher die grösste An- zahl Sklaven besitzt, wird mit ihrem Beistande leicht alle Schwächeren unterdrücken. Sklaverei ist die Regel in ganz Mittelafrika, daher auch dort, wohin wir blicken, nur Despotien auf den Trümmern von Despotien erwachsen sind. Mit der Unterscheidung von Freien und Unfreien gliedert sich die Gesellschaft in Stände und selbst unter Negern, wenn auch selten, wie an der Goldküste oder im Congolande entsteht ein Adel 2). Das gleiche geschieht dort, wo eine erobernde Race sich 1) Waitz, Anthropologie Bd 3. S. 313, 329 und Sproat im Anthropol. Review. London 1868. tom. VI, p. 369. Selbst bei den Botocuden will man kriegsgefangene Sklaven gesehen haben. Prinz zu Neuwied, Reise nach Brasilien. Frankfurt 1821. Bd. 2. S. 45. 2) Antonio Zucchelli, Missione di Congo. Venezia 1712. IX, 7. p. 148.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/271>, abgerufen am 28.04.2024.