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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft.
thümer, den Sonnensohn, der durch seine Beamten die Frohndienste
den Unterthanen auferlegte und alle Erzeugnisse der Arbeit wieder
unter sie vertheilen liess. Uebrigens war diese Ordnung der Dinge
nicht auf Peru beschränkt, sondern wie die Inca verfuhren die
Caziken der Antillen1) und die Häuptlinge der Otomaken im heu-
tigen Venezuela2). Wo den Häuptlingen göttliche Abkunft zuge-
schrieben wird und sie für höhere Wesen gelten, da kann ihnen
gegenüber das Eigenthum nicht streng aufrecht erhalten werden.
Bei den Polynesiern und polynesischen Mischvölkern wird alles was
der Fürst betastet oder betritt tabu oder unberührbar für Jeder-
mann und es ist oft schon dargestellt worden, welchen lästigen
Vorsichtsmassregeln die Häuptlinge sich unterziehen mussten, um
die unerwünschten Rechtsfolgen zu vermeiden, dass sie beispiels-
weise über Fluren hinweg getragen wurden, um deren Tabuirung
abzuwenden.

Mit der Art des Nahrungserwerbes hängt am innigsten die
Gliederung des Gemeinwesens zusammen. Wo sich der Mensch
zum Menschen gesellt, da erhebt sich auch stets eine Obrigkeit.
Am lockersten sind alle gesellschaftlichen Fesseln der herumstrei-
chenden Jägerhorden Brasiliens, die aus wenigen, oft nur aus einer
einzigen Familie bestehen. Aber auch diese haben ihr Revier zu
beschützen und bedürfen wenigstens eines Anführers im Kriege.
Bei allen Jägern und Fischern ist die Macht der Häuptlinge sehr
beschränkt, oft nicht einmal erblich. Die Indianer Nordamerikas,
die Australier, die Buschmänner, die Eskimo haben ihren Ober-
häuptern nur den Schatten von Macht gegönnt. Die Jagd und
der Fischfang sind eben diejenigen Erwerbsarten, zu denen der
Einzelne am Wenigsten den Beistand von Mitmenschen bedarf. "In
jedem Ameisenstaat, ruft der Pater Gumilla3) mit Bezug auf die
Indianer am Orinoco aus, herrscht mehr Ordnung und Obrigkeit,
als bei den Völkerschaften, über die ich geschrieben habe".
Günstiger urtheilt ein anderer Jesuit, Charlevoix4), über die Indianer

1) Peschel, Zeitalter der Entdeckungen. S. 192.
2) P. Jos. Gumilla, El Orinoco ilustrado. Madrid 1741. P. I. cap. 11.
p. 104.
3) El Orinoco ilustrado. P. I, cap. 8. p. 70.
4) Nouvelle France. tom. III, p. 341.

Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft.
thümer, den Sonnensohn, der durch seine Beamten die Frohndienste
den Unterthanen auferlegte und alle Erzeugnisse der Arbeit wieder
unter sie vertheilen liess. Uebrigens war diese Ordnung der Dinge
nicht auf Peru beschränkt, sondern wie die Inca verfuhren die
Caziken der Antillen1) und die Häuptlinge der Otomaken im heu-
tigen Venezuela2). Wo den Häuptlingen göttliche Abkunft zuge-
schrieben wird und sie für höhere Wesen gelten, da kann ihnen
gegenüber das Eigenthum nicht streng aufrecht erhalten werden.
Bei den Polynesiern und polynesischen Mischvölkern wird alles was
der Fürst betastet oder betritt tabu oder unberührbar für Jeder-
mann und es ist oft schon dargestellt worden, welchen lästigen
Vorsichtsmassregeln die Häuptlinge sich unterziehen mussten, um
die unerwünschten Rechtsfolgen zu vermeiden, dass sie beispiels-
weise über Fluren hinweg getragen wurden, um deren Tabuirung
abzuwenden.

Mit der Art des Nahrungserwerbes hängt am innigsten die
Gliederung des Gemeinwesens zusammen. Wo sich der Mensch
zum Menschen gesellt, da erhebt sich auch stets eine Obrigkeit.
Am lockersten sind alle gesellschaftlichen Fesseln der herumstrei-
chenden Jägerhorden Brasiliens, die aus wenigen, oft nur aus einer
einzigen Familie bestehen. Aber auch diese haben ihr Revier zu
beschützen und bedürfen wenigstens eines Anführers im Kriege.
Bei allen Jägern und Fischern ist die Macht der Häuptlinge sehr
beschränkt, oft nicht einmal erblich. Die Indianer Nordamerikas,
die Australier, die Buschmänner, die Eskimo haben ihren Ober-
häuptern nur den Schatten von Macht gegönnt. Die Jagd und
der Fischfang sind eben diejenigen Erwerbsarten, zu denen der
Einzelne am Wenigsten den Beistand von Mitmenschen bedarf. „In
jedem Ameisenstaat, ruft der Pater Gumilla3) mit Bezug auf die
Indianer am Orinoco aus, herrscht mehr Ordnung und Obrigkeit,
als bei den Völkerschaften, über die ich geschrieben habe“.
Günstiger urtheilt ein anderer Jesuit, Charlevoix4), über die Indianer

1) Peschel, Zeitalter der Entdeckungen. S. 192.
2) P. Jos. Gumilla, El Orinoco ilustrado. Madrid 1741. P. I. cap. 11.
p. 104.
3) El Orinoco ilustrado. P. I, cap. 8. p. 70.
4) Nouvelle France. tom. III, p. 341.
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[252/0270] Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft. thümer, den Sonnensohn, der durch seine Beamten die Frohndienste den Unterthanen auferlegte und alle Erzeugnisse der Arbeit wieder unter sie vertheilen liess. Uebrigens war diese Ordnung der Dinge nicht auf Peru beschränkt, sondern wie die Inca verfuhren die Caziken der Antillen 1) und die Häuptlinge der Otomaken im heu- tigen Venezuela 2). Wo den Häuptlingen göttliche Abkunft zuge- schrieben wird und sie für höhere Wesen gelten, da kann ihnen gegenüber das Eigenthum nicht streng aufrecht erhalten werden. Bei den Polynesiern und polynesischen Mischvölkern wird alles was der Fürst betastet oder betritt tabu oder unberührbar für Jeder- mann und es ist oft schon dargestellt worden, welchen lästigen Vorsichtsmassregeln die Häuptlinge sich unterziehen mussten, um die unerwünschten Rechtsfolgen zu vermeiden, dass sie beispiels- weise über Fluren hinweg getragen wurden, um deren Tabuirung abzuwenden. Mit der Art des Nahrungserwerbes hängt am innigsten die Gliederung des Gemeinwesens zusammen. Wo sich der Mensch zum Menschen gesellt, da erhebt sich auch stets eine Obrigkeit. Am lockersten sind alle gesellschaftlichen Fesseln der herumstrei- chenden Jägerhorden Brasiliens, die aus wenigen, oft nur aus einer einzigen Familie bestehen. Aber auch diese haben ihr Revier zu beschützen und bedürfen wenigstens eines Anführers im Kriege. Bei allen Jägern und Fischern ist die Macht der Häuptlinge sehr beschränkt, oft nicht einmal erblich. Die Indianer Nordamerikas, die Australier, die Buschmänner, die Eskimo haben ihren Ober- häuptern nur den Schatten von Macht gegönnt. Die Jagd und der Fischfang sind eben diejenigen Erwerbsarten, zu denen der Einzelne am Wenigsten den Beistand von Mitmenschen bedarf. „In jedem Ameisenstaat, ruft der Pater Gumilla 3) mit Bezug auf die Indianer am Orinoco aus, herrscht mehr Ordnung und Obrigkeit, als bei den Völkerschaften, über die ich geschrieben habe“. Günstiger urtheilt ein anderer Jesuit, Charlevoix 4), über die Indianer 1) Peschel, Zeitalter der Entdeckungen. S. 192. 2) P. Jos. Gumilla, El Orinoco ilustrado. Madrid 1741. P. I. cap. 11. p. 104. 3) El Orinoco ilustrado. P. I, cap. 8. p. 70. 4) Nouvelle France. tom. III, p. 341.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/270>, abgerufen am 02.05.2024.