Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

Wildniß gekommen; darin hüpfte ungesehen,
ungehört eine reine lichte Quelle aus der Erde
auf die Erde -- der Sturm draussen war still,
nur die Quelle hörte man, -- "Die Heilige ist
"mir nahe, (sagte sein Herz,) ist die Quelle
"nicht ihr Bild, nicht ihrer ewigen Thränen
"Ebenbild, dringt sie nicht aus der Erde her¬
"auf, wo sie wohnt?" Auf einmal sah er in
seiner Hand -- als hab' es ihm eine fremde
darein gelegt -- die Zeichnung von Linda's
Kopf, welche Liane mit sterbenden Händen ge¬
macht und gegeben hatte; aber seine Phantasie
drückte gewaltsam dem Bilde die Ähnlichkeit mit
der Zeichnerin auf, er sah Lianens sanftes Ge¬
sicht so klar auf dem Blatt.

Er gieng wieder hinaus in die glänzende
Welt. "Wie arm bin ich! (rief er.) Ich sehe
"Sie auf der goldnen Wolke, die von der Abend¬
"sonne nach dem Morgen zieht, ich sehe Sie in
"der kalten Quelle im Thal und auf dem Mond
"und auf der Blume -- ich sehe Sie überall;
"und Sie ruht nur an Einem Ort. O wie
"arm!" -- Und er blickte zum Himmel und
eine einzige lange Wolke zog darin eilig weiter.

Wildniß gekommen; darin hüpfte ungeſehen,
ungehört eine reine lichte Quelle aus der Erde
auf die Erde — der Sturm drauſſen war ſtill,
nur die Quelle hörte man, — „Die Heilige iſt
„mir nahe, (ſagte ſein Herz,) iſt die Quelle
„nicht ihr Bild, nicht ihrer ewigen Thränen
„Ebenbild, dringt ſie nicht aus der Erde her¬
„auf, wo ſie wohnt?“ Auf einmal ſah er in
ſeiner Hand — als hab' es ihm eine fremde
darein gelegt — die Zeichnung von Linda's
Kopf, welche Liane mit ſterbenden Händen ge¬
macht und gegeben hatte; aber ſeine Phantaſie
drückte gewaltſam dem Bilde die Ähnlichkeit mit
der Zeichnerin auf, er ſah Lianens ſanftes Ge¬
ſicht ſo klar auf dem Blatt.

Er gieng wieder hinaus in die glänzende
Welt. „Wie arm bin ich! (rief er.) Ich ſehe
„Sie auf der goldnen Wolke, die von der Abend¬
„ſonne nach dem Morgen zieht, ich ſehe Sie in
„der kalten Quelle im Thal und auf dem Mond
„und auf der Blume — ich ſehe Sie überall;
„und Sie ruht nur an Einem Ort. O wie
„arm!“ — Und er blickte zum Himmel und
eine einzige lange Wolke zog darin eilig weiter.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0022" n="10"/>
Wildniß gekommen; darin hüpfte unge&#x017F;ehen,<lb/>
ungehört eine reine lichte Quelle aus der Erde<lb/>
auf die Erde &#x2014; der Sturm drau&#x017F;&#x017F;en war &#x017F;till,<lb/>
nur die Quelle hörte man, &#x2014; &#x201E;Die Heilige i&#x017F;t<lb/>
&#x201E;mir nahe, (&#x017F;agte &#x017F;ein Herz,) i&#x017F;t die Quelle<lb/>
&#x201E;nicht ihr Bild, nicht ihrer ewigen Thränen<lb/>
&#x201E;Ebenbild, dringt &#x017F;ie nicht aus der Erde her¬<lb/>
&#x201E;auf, wo &#x017F;ie wohnt?&#x201C; Auf einmal &#x017F;ah er in<lb/>
&#x017F;einer Hand &#x2014; als hab' es ihm eine fremde<lb/>
darein gelegt &#x2014; die Zeichnung von Linda's<lb/>
Kopf, welche Liane mit &#x017F;terbenden Händen ge¬<lb/>
macht und gegeben hatte; aber &#x017F;eine Phanta&#x017F;ie<lb/>
drückte gewalt&#x017F;am dem Bilde die Ähnlichkeit mit<lb/>
der Zeichnerin auf, er &#x017F;ah Lianens &#x017F;anftes Ge¬<lb/>
&#x017F;icht &#x017F;o klar auf dem Blatt.</p><lb/>
          <p>Er gieng wieder hinaus in die glänzende<lb/>
Welt. &#x201E;Wie arm bin ich! (rief er.) Ich &#x017F;ehe<lb/>
&#x201E;Sie auf der goldnen Wolke, die von der Abend¬<lb/>
&#x201E;&#x017F;onne nach dem Morgen zieht, ich &#x017F;ehe Sie in<lb/>
&#x201E;der kalten Quelle im Thal und auf dem Mond<lb/>
&#x201E;und auf der Blume &#x2014; ich &#x017F;ehe Sie überall;<lb/>
&#x201E;und Sie ruht nur an Einem Ort. O wie<lb/>
&#x201E;arm!&#x201C; &#x2014; Und er blickte zum Himmel und<lb/>
eine einzige lange Wolke zog darin eilig weiter.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[10/0022] Wildniß gekommen; darin hüpfte ungeſehen, ungehört eine reine lichte Quelle aus der Erde auf die Erde — der Sturm drauſſen war ſtill, nur die Quelle hörte man, — „Die Heilige iſt „mir nahe, (ſagte ſein Herz,) iſt die Quelle „nicht ihr Bild, nicht ihrer ewigen Thränen „Ebenbild, dringt ſie nicht aus der Erde her¬ „auf, wo ſie wohnt?“ Auf einmal ſah er in ſeiner Hand — als hab' es ihm eine fremde darein gelegt — die Zeichnung von Linda's Kopf, welche Liane mit ſterbenden Händen ge¬ macht und gegeben hatte; aber ſeine Phantaſie drückte gewaltſam dem Bilde die Ähnlichkeit mit der Zeichnerin auf, er ſah Lianens ſanftes Ge¬ ſicht ſo klar auf dem Blatt. Er gieng wieder hinaus in die glänzende Welt. „Wie arm bin ich! (rief er.) Ich ſehe „Sie auf der goldnen Wolke, die von der Abend¬ „ſonne nach dem Morgen zieht, ich ſehe Sie in „der kalten Quelle im Thal und auf dem Mond „und auf der Blume — ich ſehe Sie überall; „und Sie ruht nur an Einem Ort. O wie „arm!“ — Und er blickte zum Himmel und eine einzige lange Wolke zog darin eilig weiter.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan04_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan04_1803/22
Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan04_1803/22>, abgerufen am 23.11.2024.