Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Titan. Bd. 2. Berlin, 1801.

Bild:
<< vorherige Seite

"stiller Kirchhof deiner Kindertage. -- Wie
"sind die Kinder glücklich, Albano, ach, wie
"sind die Kinder glücklich!" -- "Sind wirs
"nicht?" (antwortete er mit freudigen Thrä¬
nen) "Karl, wie oft stand ich auf den Höhen
"an Abenden wie dieser und streckte inbrünstig
"meine kindischen Hände aus nach Dir und
"nach der Welt. -- Nun hab' ichs ja alles.
"Wahrlich du hast nicht Recht." -- Aber er,
am brausenden Ohrenklingen vergangner wei¬
ter Zeiten krank, blieb taub gegen das Wort
und sagte: nur die Wiegenlieder, nur die zu¬
rücktönenden Wiegenlieder, schläfern die Seele
ein, wenn sie heiß geweinet hat.

Stiller und langsamer ritten sie zurück. Al¬
bano trug eine neue Welt der Liebe und der
Wonne in der Brust; und der Jüngling, -- noch
nicht ein Schuldner der Vergangenheit, sondern
ein Gast der Gegenwart -- sank, vom langen
Jubel des Tags süß abgespannt, in helldunkle
Träume unter, gleichsam ein hoher Raubvogel
still auf entzückt-offnen Schwingen hängend.

"Wir wollen die ganze Nacht bei Ratto
bleiben." sagte Karl in der Stadt.

„ſtiller Kirchhof deiner Kindertage. — Wie
„ſind die Kinder glücklich, Albano, ach, wie
„ſind die Kinder glücklich!“ — „Sind wirs
„nicht?“ (antwortete er mit freudigen Thrä¬
nen) „Karl, wie oft ſtand ich auf den Höhen
„an Abenden wie dieſer und ſtreckte inbrünſtig
„meine kindiſchen Hände aus nach Dir und
„nach der Welt. — Nun hab' ichs ja alles.
„Wahrlich du haſt nicht Recht.“ — Aber er,
am brauſenden Ohrenklingen vergangner wei¬
ter Zeiten krank, blieb taub gegen das Wort
und ſagte: nur die Wiegenlieder, nur die zu¬
rücktönenden Wiegenlieder, ſchläfern die Seele
ein, wenn ſie heiß geweinet hat.

Stiller und langſamer ritten ſie zurück. Al¬
bano trug eine neue Welt der Liebe und der
Wonne in der Bruſt; und der Jüngling, — noch
nicht ein Schuldner der Vergangenheit, ſondern
ein Gaſt der Gegenwart — ſank, vom langen
Jubel des Tags ſüß abgeſpannt, in helldunkle
Träume unter, gleichſam ein hoher Raubvogel
ſtill auf entzückt-offnen Schwingen hängend.

„Wir wollen die ganze Nacht bei Ratto
bleiben.“ ſagte Karl in der Stadt.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0030" n="22"/>
&#x201E;&#x017F;tiller Kirchhof deiner Kindertage. &#x2014; Wie<lb/>
&#x201E;&#x017F;ind die Kinder glücklich, Albano, ach, wie<lb/>
&#x201E;&#x017F;ind die Kinder glücklich!&#x201C; &#x2014; &#x201E;Sind wirs<lb/>
&#x201E;nicht?&#x201C; (antwortete er mit freudigen Thrä¬<lb/>
nen) &#x201E;Karl, wie oft &#x017F;tand ich auf den Höhen<lb/>
&#x201E;an Abenden wie die&#x017F;er und &#x017F;treckte inbrün&#x017F;tig<lb/>
&#x201E;meine kindi&#x017F;chen Hände aus nach Dir und<lb/>
&#x201E;nach der Welt. &#x2014; Nun hab' ichs ja alles.<lb/>
&#x201E;Wahrlich du ha&#x017F;t nicht Recht.&#x201C; &#x2014; Aber er,<lb/>
am brau&#x017F;enden Ohrenklingen vergangner wei¬<lb/>
ter Zeiten krank, blieb taub gegen das Wort<lb/>
und &#x017F;agte: nur die Wiegenlieder, nur die zu¬<lb/>
rücktönenden Wiegenlieder, &#x017F;chläfern die Seele<lb/>
ein, wenn &#x017F;ie heiß geweinet hat.</p><lb/>
          <p>Stiller und lang&#x017F;amer ritten &#x017F;ie zurück. Al¬<lb/>
bano trug eine neue Welt der Liebe und der<lb/>
Wonne in der Bru&#x017F;t; und der Jüngling, &#x2014; noch<lb/>
nicht ein Schuldner der Vergangenheit, &#x017F;ondern<lb/>
ein Ga&#x017F;t der Gegenwart &#x2014; &#x017F;ank, vom langen<lb/>
Jubel des Tags &#x017F;üß abge&#x017F;pannt, in helldunkle<lb/>
Träume unter, gleich&#x017F;am ein hoher Raubvogel<lb/>
&#x017F;till auf entzückt-offnen Schwingen hängend.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Wir wollen die ganze Nacht bei Ratto<lb/>
bleiben.&#x201C; &#x017F;agte Karl in der Stadt.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[22/0030] „ſtiller Kirchhof deiner Kindertage. — Wie „ſind die Kinder glücklich, Albano, ach, wie „ſind die Kinder glücklich!“ — „Sind wirs „nicht?“ (antwortete er mit freudigen Thrä¬ nen) „Karl, wie oft ſtand ich auf den Höhen „an Abenden wie dieſer und ſtreckte inbrünſtig „meine kindiſchen Hände aus nach Dir und „nach der Welt. — Nun hab' ichs ja alles. „Wahrlich du haſt nicht Recht.“ — Aber er, am brauſenden Ohrenklingen vergangner wei¬ ter Zeiten krank, blieb taub gegen das Wort und ſagte: nur die Wiegenlieder, nur die zu¬ rücktönenden Wiegenlieder, ſchläfern die Seele ein, wenn ſie heiß geweinet hat. Stiller und langſamer ritten ſie zurück. Al¬ bano trug eine neue Welt der Liebe und der Wonne in der Bruſt; und der Jüngling, — noch nicht ein Schuldner der Vergangenheit, ſondern ein Gaſt der Gegenwart — ſank, vom langen Jubel des Tags ſüß abgeſpannt, in helldunkle Träume unter, gleichſam ein hoher Raubvogel ſtill auf entzückt-offnen Schwingen hängend. „Wir wollen die ganze Nacht bei Ratto bleiben.“ ſagte Karl in der Stadt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan02_1801
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan02_1801/30
Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 2. Berlin, 1801, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan02_1801/30>, abgerufen am 03.12.2024.