Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Titan. Bd. 2. Berlin, 1801.

Bild:
<< vorherige Seite

konnte das Schlimme nicht finden, daß die
Freundinnen wie die Römer, der Viktoria (näm¬
lich uns) gern die Flügel abschneiden, damit
die Gottheit nicht weiter fliege. --

An einem schönen Tag ist nichts so schön
als sein Sonnenuntergang; der Graf schlug
vor, ins Abendroth hinauszureiten und auf der
Höhe nach der Sonne zu schauen. Sie trabten
durch die Straßen; Karl zog bald vor einer
schönen Nase, bald vor einem großen Augen¬
paar, bald vor durchsichtigen Stirnlocken den
großen schiefsitzenden Hut ab. Sie flogen in
die Lindenallee, die sich mit einer bunten Lam¬
bris von Spazier -- sitzerinnen festlich putzte.
Ein großes feurig durchblickendes Weib schritt
im rothen Shawl und gelben Kleide durch das
weibliche Blumenbeet hoch wie die Blumengöt¬
tin; es war die Konzipientin des rothen Blat¬
tes; sie war aber aufmerksamer auf den schö¬
nen Grafen als auf ihren Freund. An allen
Wänden und Bäumen blühte das Rosenspalier
des Abendroths. Sie brauseten die weisse
Straße nach Blumenbühl hinauf -- an beiden
Seiten schlug das goldgrüne Meer des Früh¬

konnte das Schlimme nicht finden, daß die
Freundinnen wie die Römer, der Viktoria (näm¬
lich uns) gern die Flügel abſchneiden, damit
die Gottheit nicht weiter fliege. —

An einem ſchönen Tag iſt nichts ſo ſchön
als ſein Sonnenuntergang; der Graf ſchlug
vor, ins Abendroth hinauszureiten und auf der
Höhe nach der Sonne zu ſchauen. Sie trabten
durch die Straßen; Karl zog bald vor einer
ſchönen Naſe, bald vor einem großen Augen¬
paar, bald vor durchſichtigen Stirnlocken den
großen ſchiefſitzenden Hut ab. Sie flogen in
die Lindenallee, die ſich mit einer bunten Lam¬
bris von Spazier — ſitzerinnen feſtlich putzte.
Ein großes feurig durchblickendes Weib ſchritt
im rothen Shawl und gelben Kleide durch das
weibliche Blumenbeet hoch wie die Blumengöt¬
tin; es war die Konzipientin des rothen Blat¬
tes; ſie war aber aufmerkſamer auf den ſchö¬
nen Grafen als auf ihren Freund. An allen
Wänden und Bäumen blühte das Roſenſpalier
des Abendroths. Sie brauſeten die weiſſe
Straße nach Blumenbühl hinauf — an beiden
Seiten ſchlug das goldgrüne Meer des Früh¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0028" n="20"/>
konnte das Schlimme nicht finden, daß die<lb/>
Freundinnen wie die Römer, der Viktoria (näm¬<lb/>
lich uns) gern die Flügel ab&#x017F;chneiden, damit<lb/>
die Gottheit nicht weiter fliege. &#x2014;</p><lb/>
          <p>An einem &#x017F;chönen Tag i&#x017F;t nichts &#x017F;o &#x017F;chön<lb/>
als &#x017F;ein Sonnenuntergang; der Graf &#x017F;chlug<lb/>
vor, ins Abendroth hinauszureiten und auf der<lb/>
Höhe nach der Sonne zu &#x017F;chauen. Sie trabten<lb/>
durch die Straßen; Karl zog bald vor einer<lb/>
&#x017F;chönen Na&#x017F;e, bald vor einem großen Augen¬<lb/>
paar, bald vor durch&#x017F;ichtigen Stirnlocken den<lb/>
großen &#x017F;chief&#x017F;itzenden Hut ab. Sie flogen in<lb/>
die Lindenallee, die &#x017F;ich mit einer bunten Lam¬<lb/>
bris von Spazier &#x2014; &#x017F;itzerinnen fe&#x017F;tlich putzte.<lb/>
Ein großes feurig durchblickendes Weib &#x017F;chritt<lb/>
im rothen Shawl und gelben Kleide durch das<lb/>
weibliche Blumenbeet hoch wie die Blumengöt¬<lb/>
tin; es war die Konzipientin des rothen Blat¬<lb/>
tes; &#x017F;ie war aber aufmerk&#x017F;amer auf den &#x017F;chö¬<lb/>
nen Grafen als auf ihren Freund. An allen<lb/>
Wänden und Bäumen blühte das Ro&#x017F;en&#x017F;palier<lb/>
des Abendroths. Sie brau&#x017F;eten die wei&#x017F;&#x017F;e<lb/>
Straße nach Blumenbühl hinauf &#x2014; an beiden<lb/>
Seiten &#x017F;chlug das goldgrüne Meer des Früh¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[20/0028] konnte das Schlimme nicht finden, daß die Freundinnen wie die Römer, der Viktoria (näm¬ lich uns) gern die Flügel abſchneiden, damit die Gottheit nicht weiter fliege. — An einem ſchönen Tag iſt nichts ſo ſchön als ſein Sonnenuntergang; der Graf ſchlug vor, ins Abendroth hinauszureiten und auf der Höhe nach der Sonne zu ſchauen. Sie trabten durch die Straßen; Karl zog bald vor einer ſchönen Naſe, bald vor einem großen Augen¬ paar, bald vor durchſichtigen Stirnlocken den großen ſchiefſitzenden Hut ab. Sie flogen in die Lindenallee, die ſich mit einer bunten Lam¬ bris von Spazier — ſitzerinnen feſtlich putzte. Ein großes feurig durchblickendes Weib ſchritt im rothen Shawl und gelben Kleide durch das weibliche Blumenbeet hoch wie die Blumengöt¬ tin; es war die Konzipientin des rothen Blat¬ tes; ſie war aber aufmerkſamer auf den ſchö¬ nen Grafen als auf ihren Freund. An allen Wänden und Bäumen blühte das Roſenſpalier des Abendroths. Sie brauſeten die weiſſe Straße nach Blumenbühl hinauf — an beiden Seiten ſchlug das goldgrüne Meer des Früh¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan02_1801
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan02_1801/28
Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 2. Berlin, 1801, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan02_1801/28>, abgerufen am 21.11.2024.