Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800.

Bild:
<< vorherige Seite

Auge umwehten! Die Sonne hatte sich mütter¬
lich-warm auf mein Herz gelegt, und pflegte
uns alle, die kalte Blume, den jungen nack¬
ten Vogel, den starren Schmetterling, und je¬
des Wesen; ach so soll der Mensch auch seyn,
dacht' ich. Und ich gieng den Sandweg und
schonte das Leben des armen Gräschens und
der liebäugelnden Blume, die ja hauchen und
erwachen wie wir -- ich vertrieb die weißen
durstigen Schmetterlinge und Tauben nicht, die
sich nebeneinander von der nassen Erdscholle
zum Tranke bückten -- o ich hätte die Wellen
streicheln mögen -- -- diese Schöpfung ist ja
so kostbar und aus Gottes Hand und das noch
so klein gestaltete Herz hat ja doch sein Blut
und eine Sehnsucht und in das Augen-Pünkt¬
chen unter dem Blatte kehrt ja doch die ganze
Sonne und ein kleiner Frühling ein. --

Ich lehnte mich, ein wenig ermattet, unter
den ersten Triumpfbogen, eh' ich zum Altare
aufstieg; und sah hinaus in die glimmende
Landschaft voll Dörfer und Baumgärten und
Hügel; und der flimmernde Thau und das Läu¬
ten der Dörfer und das Glockenspiel der Heer¬

Dd 2

Auge umwehten! Die Sonne hatte ſich mütter¬
lich-warm auf mein Herz gelegt, und pflegte
uns alle, die kalte Blume, den jungen nack¬
ten Vogel, den ſtarren Schmetterling, und je¬
des Weſen; ach ſo ſoll der Menſch auch ſeyn,
dacht' ich. Und ich gieng den Sandweg und
ſchonte das Leben des armen Gräschens und
der liebäugelnden Blume, die ja hauchen und
erwachen wie wir — ich vertrieb die weißen
durſtigen Schmetterlinge und Tauben nicht, die
ſich nebeneinander von der naſſen Erdſcholle
zum Tranke bückten — o ich hätte die Wellen
ſtreicheln mögen — — dieſe Schöpfung iſt ja
ſo koſtbar und aus Gottes Hand und das noch
ſo klein geſtaltete Herz hat ja doch ſein Blut
und eine Sehnſucht und in das Augen-Pünkt¬
chen unter dem Blatte kehrt ja doch die ganze
Sonne und ein kleiner Frühling ein. —

Ich lehnte mich, ein wenig ermattet, unter
den erſten Triumpfbogen, eh' ich zum Altare
aufſtieg; und ſah hinaus in die glimmende
Landſchaft voll Dörfer und Baumgärten und
Hügel; und der flimmernde Thau und das Läu¬
ten der Dörfer und das Glockenſpiel der Heer¬

Dd 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0439" n="419"/>
Auge umwehten! Die Sonne hatte &#x017F;ich mütter¬<lb/>
lich-warm auf mein Herz gelegt, und pflegte<lb/>
uns alle, die kalte Blume, den jungen nack¬<lb/>
ten Vogel, den &#x017F;tarren Schmetterling, und je¬<lb/>
des We&#x017F;en; ach &#x017F;o &#x017F;oll der Men&#x017F;ch auch &#x017F;eyn,<lb/>
dacht' ich. Und ich gieng den Sandweg und<lb/>
&#x017F;chonte das Leben des armen Gräschens und<lb/>
der liebäugelnden Blume, die ja hauchen und<lb/>
erwachen wie wir &#x2014; ich vertrieb die weißen<lb/>
dur&#x017F;tigen Schmetterlinge und Tauben nicht, die<lb/>
&#x017F;ich nebeneinander von der na&#x017F;&#x017F;en Erd&#x017F;cholle<lb/>
zum Tranke bückten &#x2014; o ich hätte die Wellen<lb/>
&#x017F;treicheln mögen &#x2014; &#x2014; die&#x017F;e Schöpfung i&#x017F;t ja<lb/>
&#x017F;o ko&#x017F;tbar und aus Gottes Hand und das noch<lb/>
&#x017F;o klein ge&#x017F;taltete Herz hat ja doch &#x017F;ein Blut<lb/>
und eine Sehn&#x017F;ucht und in das Augen-Pünkt¬<lb/>
chen unter dem Blatte kehrt ja doch die ganze<lb/>
Sonne und ein kleiner Frühling ein. &#x2014;</p><lb/>
          <p>Ich lehnte mich, ein wenig ermattet, unter<lb/>
den er&#x017F;ten Triumpfbogen, eh' ich zum Altare<lb/>
auf&#x017F;tieg; und &#x017F;ah hinaus in die glimmende<lb/>
Land&#x017F;chaft voll Dörfer und Baumgärten und<lb/>
Hügel; und der flimmernde Thau und das Läu¬<lb/>
ten der Dörfer und das Glocken&#x017F;piel der Heer¬<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Dd 2<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[419/0439] Auge umwehten! Die Sonne hatte ſich mütter¬ lich-warm auf mein Herz gelegt, und pflegte uns alle, die kalte Blume, den jungen nack¬ ten Vogel, den ſtarren Schmetterling, und je¬ des Weſen; ach ſo ſoll der Menſch auch ſeyn, dacht' ich. Und ich gieng den Sandweg und ſchonte das Leben des armen Gräschens und der liebäugelnden Blume, die ja hauchen und erwachen wie wir — ich vertrieb die weißen durſtigen Schmetterlinge und Tauben nicht, die ſich nebeneinander von der naſſen Erdſcholle zum Tranke bückten — o ich hätte die Wellen ſtreicheln mögen — — dieſe Schöpfung iſt ja ſo koſtbar und aus Gottes Hand und das noch ſo klein geſtaltete Herz hat ja doch ſein Blut und eine Sehnſucht und in das Augen-Pünkt¬ chen unter dem Blatte kehrt ja doch die ganze Sonne und ein kleiner Frühling ein. — Ich lehnte mich, ein wenig ermattet, unter den erſten Triumpfbogen, eh' ich zum Altare aufſtieg; und ſah hinaus in die glimmende Landſchaft voll Dörfer und Baumgärten und Hügel; und der flimmernde Thau und das Läu¬ ten der Dörfer und das Glockenſpiel der Heer¬ Dd 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800/439
Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800/439>, abgerufen am 18.05.2024.