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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793.

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nicht ein Kraut wie die Raupe sondern einen gan¬
zen Blumenflor von Freuden wie der Mensch zu
genießen weiß -- der nicht fünf Sinnen sondern
tausend hat für alles, für Weiber und Helden, für
Wissenschaften und Lustparthien, für Trauer- und
Lustspiele, für Natur und für Höfe. -- -- Es
giebt eine gewisse höhere Toleranz, die nicht die
Frucht des westphälischen Friedens noch des Ver¬
gleichs von 1705 sondern die eines durch viele Jah¬
re und Besserungen gesichteten Lebens ist -- diese
Toleranz findet an jeder Meinung das Wahre, an
jeder Gattung des Schönen das Schöne, an jeder
Laune das Komische und hält an Menschen, Völ¬
kern und Büchern die Verschiedenheit und Indivi¬
dualität der Vollkommenheiten nicht für die Ab¬
wesenheit derselben. Nicht bloß das Beste muß
uns gefallen: auch das Gute und Alles. --

Als die Leute aus der kleinen und ich aus der
großen Kirche zurück waren: fieng man im Wuzi¬
schen Hause das Dinieren an. Unser Brodtherr
empfieng das Gast-Paar mit seiner gewöhnlichen
Freundlichkeit und mit einer ungewöhnlichen dazu:
denn er hatte heute aus seiner Kirchenkollekte --
er kroch nach dem Gottesdienst in alle Stühle und

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nicht ein Kraut wie die Raupe ſondern einen gan¬
zen Blumenflor von Freuden wie der Menſch zu
genießen weiß — der nicht fuͤnf Sinnen ſondern
tauſend hat fuͤr alles, fuͤr Weiber und Helden, fuͤr
Wiſſenſchaften und Luſtparthien, fuͤr Trauer- und
Luſtſpiele, fuͤr Natur und fuͤr Hoͤfe. — — Es
giebt eine gewiſſe hoͤhere Toleranz, die nicht die
Frucht des weſtphaͤliſchen Friedens noch des Ver¬
gleichs von 1705 ſondern die eines durch viele Jah¬
re und Beſſerungen geſichteten Lebens iſt — dieſe
Toleranz findet an jeder Meinung das Wahre, an
jeder Gattung des Schoͤnen das Schoͤne, an jeder
Laune das Komiſche und haͤlt an Menſchen, Voͤl¬
kern und Buͤchern die Verſchiedenheit und Indivi¬
dualitaͤt der Vollkommenheiten nicht fuͤr die Ab¬
weſenheit derſelben. Nicht bloß das Beſte muß
uns gefallen: auch das Gute und Alles. —

Als die Leute aus der kleinen und ich aus der
großen Kirche zuruͤck waren: fieng man im Wuzi¬
ſchen Hauſe das Dinieren an. Unſer Brodtherr
empfieng das Gaſt-Paar mit ſeiner gewoͤhnlichen
Freundlichkeit und mit einer ungewoͤhnlichen dazu:
denn er hatte heute aus ſeiner Kirchenkollekte —
er kroch nach dem Gottesdienſt in alle Stuͤhle und

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[385/0421] nicht ein Kraut wie die Raupe ſondern einen gan¬ zen Blumenflor von Freuden wie der Menſch zu genießen weiß — der nicht fuͤnf Sinnen ſondern tauſend hat fuͤr alles, fuͤr Weiber und Helden, fuͤr Wiſſenſchaften und Luſtparthien, fuͤr Trauer- und Luſtſpiele, fuͤr Natur und fuͤr Hoͤfe. — — Es giebt eine gewiſſe hoͤhere Toleranz, die nicht die Frucht des weſtphaͤliſchen Friedens noch des Ver¬ gleichs von 1705 ſondern die eines durch viele Jah¬ re und Beſſerungen geſichteten Lebens iſt — dieſe Toleranz findet an jeder Meinung das Wahre, an jeder Gattung des Schoͤnen das Schoͤne, an jeder Laune das Komiſche und haͤlt an Menſchen, Voͤl¬ kern und Buͤchern die Verſchiedenheit und Indivi¬ dualitaͤt der Vollkommenheiten nicht fuͤr die Ab¬ weſenheit derſelben. Nicht bloß das Beſte muß uns gefallen: auch das Gute und Alles. — Als die Leute aus der kleinen und ich aus der großen Kirche zuruͤck waren: fieng man im Wuzi¬ ſchen Hauſe das Dinieren an. Unſer Brodtherr empfieng das Gaſt-Paar mit ſeiner gewoͤhnlichen Freundlichkeit und mit einer ungewoͤhnlichen dazu: denn er hatte heute aus ſeiner Kirchenkollekte — er kroch nach dem Gottesdienſt in alle Stuͤhle und B h

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Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793, S. 385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793/421>, abgerufen am 06.05.2024.