Abends das Kind dahin, das er am meisten liebte *) und das, wenn er auf der Säule betete, mit dem einen Arm um den Baum geschlungen, sehnsüchtig und singend über die weite Gegend hinüber blickte und sich hinauslehnte und ohne es zu wissen in sü¬ ßer Beklommenheit über die eignen Töne und die entlegnen Gefilde weinte und über das blasse Mor¬ genroth, das von der Abendröthe zurückglimmte. Einmal da der Lehrer das Kind fragte: warum bist du so still und singest nicht mehr? -- gab es zur Antwort: "ach ich sehne mich in die Morgenröthe, ich "möchte darin liegen und dadurch gehen und in die "hellen Länder dahinter hineinschauen." -- Ich setze mich oft unter jenen Baum und lehne den Kopf an ihn und verfolge stumm die Entfernung bis an den Horizont, der vor Deutschland steht, und niemand stört mein Weinen und mein stilles Beten.
Ich war heute zum leztenmale dort, denn mor¬ gen gehen wir mit meiner Mutter, ohne die mein verwaistes Herz nicht mehr leben kann, nach Deutsch¬ land zurück zum besten Freunde der treuesten Freunde. Cl.
O du gute Seele! -- --
*) Sie weiß es wol, daß es Viktor war.
Abends das Kind dahin, das er am meiſten liebte *) und das, wenn er auf der Saͤule betete, mit dem einen Arm um den Baum geſchlungen, ſehnſuͤchtig und ſingend uͤber die weite Gegend hinuͤber blickte und ſich hinauslehnte und ohne es zu wiſſen in ſuͤ¬ ßer Beklommenheit uͤber die eignen Toͤne und die entlegnen Gefilde weinte und uͤber das blaſſe Mor¬ genroth, das von der Abendroͤthe zuruͤckglimmte. Einmal da der Lehrer das Kind fragte: warum biſt du ſo ſtill und ſingeſt nicht mehr? — gab es zur Antwort: »ach ich ſehne mich in die Morgenroͤthe, ich »moͤchte darin liegen und dadurch gehen und in die »hellen Laͤnder dahinter hineinſchauen.» — Ich ſetze mich oft unter jenen Baum und lehne den Kopf an ihn und verfolge ſtumm die Entfernung bis an den Horizont, der vor Deutſchland ſteht, und niemand ſtoͤrt mein Weinen und mein ſtilles Beten.
Ich war heute zum leztenmale dort, denn mor¬ gen gehen wir mit meiner Mutter, ohne die mein verwaiſtes Herz nicht mehr leben kann, nach Deutſch¬ land zuruͤck zum beſten Freunde der treueſten Freunde. Cl.
O du gute Seele! — —
*) Sie weiß es wol, daß es Viktor war.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0359"n="349"/>
Abends das Kind dahin, das er am meiſten liebte <noteplace="foot"n="*)">Sie weiß es wol, daß es Viktor war.</note><lb/>
und das, wenn er auf der Saͤule betete, mit dem<lb/>
einen Arm um den Baum geſchlungen, ſehnſuͤchtig<lb/>
und ſingend uͤber die weite Gegend hinuͤber blickte<lb/>
und ſich hinauslehnte und ohne es zu wiſſen in ſuͤ¬<lb/>
ßer Beklommenheit uͤber die eignen Toͤne und die<lb/>
entlegnen Gefilde weinte und uͤber das blaſſe Mor¬<lb/>
genroth, das von der Abendroͤthe zuruͤckglimmte.<lb/>
Einmal da der Lehrer das Kind fragte: warum biſt<lb/>
du ſo ſtill und ſingeſt nicht mehr? — gab es zur<lb/>
Antwort: »ach ich ſehne mich in die Morgenroͤthe, ich<lb/>
»moͤchte darin liegen und dadurch gehen und in die<lb/>
»hellen Laͤnder dahinter hineinſchauen.» — Ich<lb/>ſetze mich oft unter jenen Baum und lehne den<lb/>
Kopf an ihn und verfolge ſtumm die Entfernung bis<lb/>
an den Horizont, der vor Deutſchland ſteht, und<lb/>
niemand ſtoͤrt mein Weinen und mein ſtilles Beten.</p><lb/><p>Ich war heute zum leztenmale dort, denn mor¬<lb/>
gen gehen wir mit meiner Mutter, ohne die mein<lb/>
verwaiſtes Herz nicht mehr leben kann, nach Deutſch¬<lb/>
land zuruͤck zum beſten Freunde der<lb/><hirendition="#right">treueſten Freunde.<lb/>
Cl.</hi></p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>O du gute Seele! ——</p><lb/></div></div></body></text></TEI>
[349/0359]
Abends das Kind dahin, das er am meiſten liebte *)
und das, wenn er auf der Saͤule betete, mit dem
einen Arm um den Baum geſchlungen, ſehnſuͤchtig
und ſingend uͤber die weite Gegend hinuͤber blickte
und ſich hinauslehnte und ohne es zu wiſſen in ſuͤ¬
ßer Beklommenheit uͤber die eignen Toͤne und die
entlegnen Gefilde weinte und uͤber das blaſſe Mor¬
genroth, das von der Abendroͤthe zuruͤckglimmte.
Einmal da der Lehrer das Kind fragte: warum biſt
du ſo ſtill und ſingeſt nicht mehr? — gab es zur
Antwort: »ach ich ſehne mich in die Morgenroͤthe, ich
»moͤchte darin liegen und dadurch gehen und in die
»hellen Laͤnder dahinter hineinſchauen.» — Ich
ſetze mich oft unter jenen Baum und lehne den
Kopf an ihn und verfolge ſtumm die Entfernung bis
an den Horizont, der vor Deutſchland ſteht, und
niemand ſtoͤrt mein Weinen und mein ſtilles Beten.
Ich war heute zum leztenmale dort, denn mor¬
gen gehen wir mit meiner Mutter, ohne die mein
verwaiſtes Herz nicht mehr leben kann, nach Deutſch¬
land zuruͤck zum beſten Freunde der
treueſten Freunde.
Cl.
O du gute Seele! — —
*) Sie weiß es wol, daß es Viktor war.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795/359>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.