er konnte da nichts lieben, weder die Fürstin, die immer da war, noch Schleunes ehelose Töchter, die noch wider sein Gelübde waren.
Nachts um 12 Uhr hätte Zeusel gern noch dar¬ hinterkommen wollen, wie alles wäre und brachte dem Leibmedikus seine Niece Marie als Soubrette und Lakaiin zugeführet. Der Medikus, der keinen Narren in der Welt zum Narren haben konnte, zu¬ mal unter vier Augen, steckte dem dünnen Hecht die Raufe voll Wahrheits-Futter, das der begierig herausfras wie Ananas. Marie war eine durch ei¬ nen Prozeß verarmte, durch eine Liebe verunglückte Verwandte und Katholikin, die in der kalten höfi¬ schen Apothekers-Familie nichts empfieng und er¬ wartete als Stichwunden der Worte und Schußwun¬ den der Blicke -- ihre aufgelöste und erquetschte Seele glich der Bruchweide, der man alle Zweige rückwärts mit der blossen Hand herunterstreichen kann -- sie fühlte bei keiner Demüthigung einen Schmerz mehr -- sie schien vor andern zu krie¬ chen, aber sie lag ja immerfort niedergebreitet auf den Boden. -- -- Der sanfte Viktor, als er diese demüthige, seitwärtsgekehrte Gestalt, über die so viele Thränen gegangen waren und dieses sonst schöne Gesicht erblickte, auf welches nicht Leiden der Phantasie ihre magische Tusche aufgetragen, sondern physische Schmerzen ihre Giftblasen ausgeschüttet
er konnte da nichts lieben, weder die Fuͤrſtin, die immer da war, noch Schleunes eheloſe Toͤchter, die noch wider ſein Geluͤbde waren.
Nachts um 12 Uhr haͤtte Zeuſel gern noch dar¬ hinterkommen wollen, wie alles waͤre und brachte dem Leibmedikus ſeine Niece Marie als Soubrette und Lakaiin zugefuͤhret. Der Medikus, der keinen Narren in der Welt zum Narren haben konnte, zu¬ mal unter vier Augen, ſteckte dem duͤnnen Hecht die Raufe voll Wahrheits-Futter, das der begierig herausfras wie Ananas. Marie war eine durch ei¬ nen Prozeß verarmte, durch eine Liebe verungluͤckte Verwandte und Katholikin, die in der kalten hoͤfi¬ ſchen Apothekers-Familie nichts empfieng und er¬ wartete als Stichwunden der Worte und Schußwun¬ den der Blicke — ihre aufgeloͤſte und erquetſchte Seele glich der Bruchweide, der man alle Zweige ruͤckwaͤrts mit der bloſſen Hand herunterſtreichen kann — ſie fuͤhlte bei keiner Demuͤthigung einen Schmerz mehr — ſie ſchien vor andern zu krie¬ chen, aber ſie lag ja immerfort niedergebreitet auf den Boden. — — Der ſanfte Viktor, als er dieſe demuͤthige, ſeitwaͤrtsgekehrte Geſtalt, uͤber die ſo viele Thraͤnen gegangen waren und dieſes ſonſt ſchoͤne Geſicht erblickte, auf welches nicht Leiden der Phantaſie ihre magiſche Tuſche aufgetragen, ſondern phyſiſche Schmerzen ihre Giftblaſen ausgeſchuͤttet
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0025"n="15"/>
er konnte da nichts lieben, weder die Fuͤrſtin, die<lb/>
immer da war, noch Schleunes eheloſe Toͤchter, die<lb/>
noch wider ſein Geluͤbde waren.</p><lb/><p>Nachts um 12 Uhr haͤtte Zeuſel gern noch dar¬<lb/>
hinterkommen wollen, wie alles waͤre und brachte<lb/>
dem Leibmedikus ſeine Niece <hirendition="#g">Marie</hi> als Soubrette<lb/>
und Lakaiin zugefuͤhret. Der Medikus, der keinen<lb/>
Narren in der Welt zum Narren haben konnte, zu¬<lb/>
mal unter vier Augen, ſteckte dem duͤnnen Hecht<lb/>
die Raufe voll Wahrheits-Futter, das der begierig<lb/>
herausfras wie Ananas. Marie war eine durch ei¬<lb/>
nen Prozeß verarmte, durch eine Liebe verungluͤckte<lb/>
Verwandte und Katholikin, die in der kalten hoͤfi¬<lb/>ſchen Apothekers-Familie nichts empfieng und er¬<lb/>
wartete als Stichwunden der Worte und Schußwun¬<lb/>
den der Blicke — ihre aufgeloͤſte und erquetſchte<lb/>
Seele glich der Bruchweide, der man alle Zweige<lb/>
ruͤckwaͤrts mit der bloſſen Hand herunterſtreichen<lb/>
kann —ſie fuͤhlte bei keiner Demuͤthigung einen<lb/>
Schmerz mehr —ſie ſchien vor andern zu <hirendition="#g">krie¬<lb/>
chen</hi>, aber ſie lag ja immerfort <hirendition="#g">niedergebreitet</hi><lb/>
auf den Boden. —— Der ſanfte Viktor, als er<lb/>
dieſe demuͤthige, ſeitwaͤrtsgekehrte Geſtalt, uͤber die<lb/>ſo viele Thraͤnen gegangen waren und dieſes ſonſt<lb/>ſchoͤne Geſicht erblickte, auf welches nicht Leiden der<lb/>
Phantaſie ihre magiſche Tuſche aufgetragen, ſondern<lb/>
phyſiſche Schmerzen ihre Giftblaſen ausgeſchuͤttet<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[15/0025]
er konnte da nichts lieben, weder die Fuͤrſtin, die
immer da war, noch Schleunes eheloſe Toͤchter, die
noch wider ſein Geluͤbde waren.
Nachts um 12 Uhr haͤtte Zeuſel gern noch dar¬
hinterkommen wollen, wie alles waͤre und brachte
dem Leibmedikus ſeine Niece Marie als Soubrette
und Lakaiin zugefuͤhret. Der Medikus, der keinen
Narren in der Welt zum Narren haben konnte, zu¬
mal unter vier Augen, ſteckte dem duͤnnen Hecht
die Raufe voll Wahrheits-Futter, das der begierig
herausfras wie Ananas. Marie war eine durch ei¬
nen Prozeß verarmte, durch eine Liebe verungluͤckte
Verwandte und Katholikin, die in der kalten hoͤfi¬
ſchen Apothekers-Familie nichts empfieng und er¬
wartete als Stichwunden der Worte und Schußwun¬
den der Blicke — ihre aufgeloͤſte und erquetſchte
Seele glich der Bruchweide, der man alle Zweige
ruͤckwaͤrts mit der bloſſen Hand herunterſtreichen
kann — ſie fuͤhlte bei keiner Demuͤthigung einen
Schmerz mehr — ſie ſchien vor andern zu krie¬
chen, aber ſie lag ja immerfort niedergebreitet
auf den Boden. — — Der ſanfte Viktor, als er
dieſe demuͤthige, ſeitwaͤrtsgekehrte Geſtalt, uͤber die
ſo viele Thraͤnen gegangen waren und dieſes ſonſt
ſchoͤne Geſicht erblickte, auf welches nicht Leiden der
Phantaſie ihre magiſche Tuſche aufgetragen, ſondern
phyſiſche Schmerzen ihre Giftblaſen ausgeſchuͤttet
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Zweites Heftlein. Berlin, 1795, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus02_1795/25>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.