Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Zweites Heftlein. Berlin, 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

Auge erquicken können, dem er in seinem eine Thräne
hätte zeigen dürfen -- wenn er so müde der Gegen¬
wart, so gleichgültig gegen die Zukunft, so wund
von der Vergangenheit neben dem letzten Narren,
neben dem Apotheker, vorbei war und wenn er in
seinem Erker in die voll Welten hängende Nacht
und in den stillenden Mond und an die Morgenwol¬
ken über St. Lüne blickte: dann ging allezeit das
geschwollne Herz und der geschwollne Augapfel ent¬
zwei und die von der Nacht verdeckten Thränen
strömten von seinem Erker auf die harten Steine
hernieder: "o nur Eine Seele, rief sein Innerstes mit
"allen Tönen der Wehmuth, nur Eine gieb du ewige
"liebende schaffende Natur diesem armen verschmach¬
"tenden Herzen, das so hart scheint und so weich
"ist, so fröhlich scheint und so trübe ist, so kalt
"scheint und so warm ist."

Dann war es gut, daß an einem ähnlichen sol¬
chen Abend kein Kammerherr, kein chevalier d'h[o]n¬
neur im Erker stand, als gerade die arme Marie --
auf welche das vorige Leben wie eine erdrückende La¬
vine herübergestürzt ist -- seine Dejeuner-Befehle
begehrte: denn er stand, ohne einen Tropfen abzu¬
wischen, freundlich auf und ging ihr entgegen und
faßte ihre weiche aber rothgearbeitete Hand, die sie
aus Furcht nicht wegzog -- wiewohl sie aus Furcht
ihr gegen die Hofnung versteinertes Gesicht abdrehte

Auge erquicken koͤnnen, dem er in ſeinem eine Thraͤne
haͤtte zeigen duͤrfen — wenn er ſo muͤde der Gegen¬
wart, ſo gleichguͤltig gegen die Zukunft, ſo wund
von der Vergangenheit neben dem letzten Narren,
neben dem Apotheker, vorbei war und wenn er in
ſeinem Erker in die voll Welten haͤngende Nacht
und in den ſtillenden Mond und an die Morgenwol¬
ken uͤber St. Luͤne blickte: dann ging allezeit das
geſchwollne Herz und der geſchwollne Augapfel ent¬
zwei und die von der Nacht verdeckten Thraͤnen
ſtroͤmten von ſeinem Erker auf die harten Steine
hernieder: »o nur Eine Seele, rief ſein Innerſtes mit
»allen Toͤnen der Wehmuth, nur Eine gieb du ewige
»liebende ſchaffende Natur dieſem armen verſchmach¬
»tenden Herzen, das ſo hart ſcheint und ſo weich
»iſt, ſo froͤhlich ſcheint und ſo truͤbe iſt, ſo kalt
»ſcheint und ſo warm iſt.«

Dann war es gut, daß an einem aͤhnlichen ſol¬
chen Abend kein Kammerherr, kein chevalier d'h[o]n¬
neur im Erker ſtand, als gerade die arme Marie —
auf welche das vorige Leben wie eine erdruͤckende La¬
vine heruͤbergeſtuͤrzt iſt — ſeine Dejeuner-Befehle
begehrte: denn er ſtand, ohne einen Tropfen abzu¬
wiſchen, freundlich auf und ging ihr entgegen und
faßte ihre weiche aber rothgearbeitete Hand, die ſie
aus Furcht nicht wegzog — wiewohl ſie aus Furcht
ihr gegen die Hofnung verſteinertes Geſicht abdrehte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0180" n="170"/>
Auge erquicken ko&#x0364;nnen, dem er in &#x017F;einem eine Thra&#x0364;ne<lb/>
ha&#x0364;tte zeigen du&#x0364;rfen &#x2014; wenn er &#x017F;o mu&#x0364;de der Gegen¬<lb/>
wart, &#x017F;o gleichgu&#x0364;ltig gegen die Zukunft, &#x017F;o wund<lb/>
von der Vergangenheit neben dem letzten Narren,<lb/>
neben dem Apotheker, vorbei war und wenn er in<lb/>
&#x017F;einem Erker in die voll Welten ha&#x0364;ngende Nacht<lb/>
und in den &#x017F;tillenden Mond und an die Morgenwol¬<lb/>
ken u&#x0364;ber St. Lu&#x0364;ne blickte: dann ging allezeit das<lb/>
ge&#x017F;chwollne Herz und der ge&#x017F;chwollne Augapfel ent¬<lb/>
zwei und die von der Nacht verdeckten Thra&#x0364;nen<lb/>
&#x017F;tro&#x0364;mten von &#x017F;einem Erker auf die harten Steine<lb/>
hernieder: »o nur Eine Seele, rief &#x017F;ein Inner&#x017F;tes mit<lb/>
»allen To&#x0364;nen der Wehmuth, nur Eine gieb du ewige<lb/>
»liebende &#x017F;chaffende Natur die&#x017F;em armen ver&#x017F;chmach¬<lb/>
»tenden Herzen, das &#x017F;o hart &#x017F;cheint und &#x017F;o weich<lb/>
»i&#x017F;t, &#x017F;o fro&#x0364;hlich &#x017F;cheint und &#x017F;o tru&#x0364;be i&#x017F;t, &#x017F;o kalt<lb/>
»&#x017F;cheint und &#x017F;o warm i&#x017F;t.«</p><lb/>
            <p>Dann war es gut, daß an einem a&#x0364;hnlichen &#x017F;ol¬<lb/>
chen Abend kein Kammerherr, kein <hi rendition="#aq">chevalier d'h</hi><supplied><hi rendition="#aq">o</hi></supplied><hi rendition="#aq">n</hi>¬<lb/><hi rendition="#aq">neur</hi> im Erker &#x017F;tand, als gerade die arme Marie &#x2014;<lb/>
auf welche das vorige Leben wie eine erdru&#x0364;ckende La¬<lb/>
vine heru&#x0364;berge&#x017F;tu&#x0364;rzt i&#x017F;t &#x2014; &#x017F;eine Dejeuner-Befehle<lb/>
begehrte: denn er &#x017F;tand, ohne einen Tropfen abzu¬<lb/>
wi&#x017F;chen, freundlich auf und ging ihr entgegen und<lb/>
faßte ihre weiche aber rothgearbeitete Hand, die &#x017F;ie<lb/>
aus Furcht nicht wegzog &#x2014; wiewohl &#x017F;ie aus Furcht<lb/>
ihr gegen die Hofnung ver&#x017F;teinertes Ge&#x017F;icht abdrehte<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[170/0180] Auge erquicken koͤnnen, dem er in ſeinem eine Thraͤne haͤtte zeigen duͤrfen — wenn er ſo muͤde der Gegen¬ wart, ſo gleichguͤltig gegen die Zukunft, ſo wund von der Vergangenheit neben dem letzten Narren, neben dem Apotheker, vorbei war und wenn er in ſeinem Erker in die voll Welten haͤngende Nacht und in den ſtillenden Mond und an die Morgenwol¬ ken uͤber St. Luͤne blickte: dann ging allezeit das geſchwollne Herz und der geſchwollne Augapfel ent¬ zwei und die von der Nacht verdeckten Thraͤnen ſtroͤmten von ſeinem Erker auf die harten Steine hernieder: »o nur Eine Seele, rief ſein Innerſtes mit »allen Toͤnen der Wehmuth, nur Eine gieb du ewige »liebende ſchaffende Natur dieſem armen verſchmach¬ »tenden Herzen, das ſo hart ſcheint und ſo weich »iſt, ſo froͤhlich ſcheint und ſo truͤbe iſt, ſo kalt »ſcheint und ſo warm iſt.« Dann war es gut, daß an einem aͤhnlichen ſol¬ chen Abend kein Kammerherr, kein chevalier d'hon¬ neur im Erker ſtand, als gerade die arme Marie — auf welche das vorige Leben wie eine erdruͤckende La¬ vine heruͤbergeſtuͤrzt iſt — ſeine Dejeuner-Befehle begehrte: denn er ſtand, ohne einen Tropfen abzu¬ wiſchen, freundlich auf und ging ihr entgegen und faßte ihre weiche aber rothgearbeitete Hand, die ſie aus Furcht nicht wegzog — wiewohl ſie aus Furcht ihr gegen die Hofnung verſteinertes Geſicht abdrehte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus02_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus02_1795/180
Zitationshilfe: Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Zweites Heftlein. Berlin, 1795, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus02_1795/180>, abgerufen am 06.05.2024.