zwingen. O ihr zwei guten Seelen! welche Quetsch¬ wunden wird euer Herz noch von eurem großen Freund empfangen.
Wohin anders konnte sie jetzt ihr liebendes und trauerndes Auge als gegen ihren guten Bruder wen¬ den, gegen den ihr Betragen durch den doppelten Zwang, den ihr ihre Verschwiegenheit und seine Auslegungen anlegten, bisher so unbeschreiblich mild geworden war? -- Da nun Viktor jetzt das alles mit so ganz andern Augen sah; da er seinem armen Freund, der mit seinem gegenwärtigen Glück viel¬ leicht die giftige Nahrung seiner künftigen Eifer¬ sucht vergrößerte, offen und fixirend in das feste An¬ gesicht schauete, das einst schwere Tage zerreissen konnten; da ihn überhaupt künftige oder ver¬ gangne Leiden des andern mehr angriffen als ge¬ genwärtige, weil ihn die Phantasie mehr in der Gewalt hatte als die Sinne: so konnt' er einen Au¬ genblick die Herrschaft über seine Augen nicht be¬ haupten, sondern sie legten ihren Blick von mitleidi¬ gen Thränen umgeben zärtlich auf seinen Freund. Klotilde wurde über den Ruheplatz seines Blickes verlegen -- er auch, weil der Mensch sich der hef¬ tigsten Zeichen des Hasses weniger schämt als der kleinsten der Liebe -- Klotilde verstand die kokette Doppelkunst nicht, in Verlegenheit zu setzen oder daraus zu ziehen -- und die gute Agathe verwech¬
zwingen. O ihr zwei guten Seelen! welche Quetſch¬ wunden wird euer Herz noch von eurem großen Freund empfangen.
Wohin anders konnte ſie jetzt ihr liebendes und trauerndes Auge als gegen ihren guten Bruder wen¬ den, gegen den ihr Betragen durch den doppelten Zwang, den ihr ihre Verſchwiegenheit und ſeine Auslegungen anlegten, bisher ſo unbeſchreiblich mild geworden war? — Da nun Viktor jetzt das alles mit ſo ganz andern Augen ſah; da er ſeinem armen Freund, der mit ſeinem gegenwaͤrtigen Gluͤck viel¬ leicht die giftige Nahrung ſeiner kuͤnftigen Eifer¬ ſucht vergroͤßerte, offen und fixirend in das feſte An¬ geſicht ſchauete, das einſt ſchwere Tage zerreiſſen konnten; da ihn uͤberhaupt kuͤnftige oder ver¬ gangne Leiden des andern mehr angriffen als ge¬ genwaͤrtige, weil ihn die Phantaſie mehr in der Gewalt hatte als die Sinne: ſo konnt' er einen Au¬ genblick die Herrſchaft uͤber ſeine Augen nicht be¬ haupten, ſondern ſie legten ihren Blick von mitleidi¬ gen Thraͤnen umgeben zaͤrtlich auf ſeinen Freund. Klotilde wurde uͤber den Ruheplatz ſeines Blickes verlegen — er auch, weil der Menſch ſich der hef¬ tigſten Zeichen des Haſſes weniger ſchaͤmt als der kleinſten der Liebe — Klotilde verſtand die kokette Doppelkunſt nicht, in Verlegenheit zu ſetzen oder daraus zu ziehen — und die gute Agathe verwech¬
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zwingen. O ihr zwei guten Seelen! welche Quetſch¬
wunden wird euer Herz noch von eurem großen
Freund empfangen.
Wohin anders konnte ſie jetzt ihr liebendes und
trauerndes Auge als gegen ihren guten Bruder wen¬
den, gegen den ihr Betragen durch den doppelten
Zwang, den ihr ihre Verſchwiegenheit und ſeine
Auslegungen anlegten, bisher ſo unbeſchreiblich mild
geworden war? — Da nun Viktor jetzt das alles
mit ſo ganz andern Augen ſah; da er ſeinem armen
Freund, der mit ſeinem gegenwaͤrtigen Gluͤck viel¬
leicht die giftige Nahrung ſeiner kuͤnftigen Eifer¬
ſucht vergroͤßerte, offen und fixirend in das feſte An¬
geſicht ſchauete, das einſt ſchwere Tage zerreiſſen
konnten; da ihn uͤberhaupt kuͤnftige oder ver¬
gangne Leiden des andern mehr angriffen als ge¬
genwaͤrtige, weil ihn die Phantaſie mehr in der
Gewalt hatte als die Sinne: ſo konnt' er einen Au¬
genblick die Herrſchaft uͤber ſeine Augen nicht be¬
haupten, ſondern ſie legten ihren Blick von mitleidi¬
gen Thraͤnen umgeben zaͤrtlich auf ſeinen Freund.
Klotilde wurde uͤber den Ruheplatz ſeines Blickes
verlegen — er auch, weil der Menſch ſich der hef¬
tigſten Zeichen des Haſſes weniger ſchaͤmt als der
kleinſten der Liebe — Klotilde verſtand die kokette
Doppelkunſt nicht, in Verlegenheit zu ſetzen oder
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Erstes Heftlein. Berlin, 1795, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus01_1795/371>, abgerufen am 10.06.2024.
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