"Ach Engel! bist du denn wieder vom Himmel her¬ unter?" sagte der Blinde, sonderbar irrend.
Wie war draussen alles so gut! die Abendglocke des Dorfes rief über die entschlummerten Fluren und eine entfernte Seele neigte sich vielleicht nach ihren verwehten gebrochenen Tönen herüber. Der Abendwind rauschte mit Gipfeln voll grüner Früchte darein. Der Abendstern -- der Mond unserer Däm¬ merung -- ruhte freundlich auf dem Wege der Sonne und des Mondes und schickte seinen Trost zwischen die Abwesenheit von beiden. -- -- "Wo "wirst du jetzt seyn, mein Emanuel? Ruhest du viel¬ "leicht vor dem Abendroth -- oder schauest du in "das Sternenmeer -- bist du in der Entzückung, "die wir ein Gebet nennen -- oder . . . "
Jetzt blitzte in ihm auf einmal der Gedunke, sein Emanuel sey, da heute Nachts der Johannistag an¬ fing, vielleicht am Genusse des Abends verschieden. . Er suchte ihn mit den Augen eifriger unter jedem Baume, in jedem tiefern Schatten, er blickte zu den Bergen auf, als könnt' er ihn da sehen, und zu den Sternen, als dürft' er ihn da suchen. -- Er umging das Dorf, dessen Ringmauer eine Fruchtschnur von Kirschbäumen war, die mit einer herabgeworfnen Milchstraße von längst gefallnen Blüten den grünen Umkreis versilberten; und eilte über die Ruinen der Häuser, die die Kinder am Tage erbauet hatten, ge¬
»Ach Engel! biſt du denn wieder vom Himmel her¬ unter?« ſagte der Blinde, ſonderbar irrend.
Wie war drauſſen alles ſo gut! die Abendglocke des Dorfes rief uͤber die entſchlummerten Fluren und eine entfernte Seele neigte ſich vielleicht nach ihren verwehten gebrochenen Toͤnen heruͤber. Der Abendwind rauſchte mit Gipfeln voll gruͤner Fruͤchte darein. Der Abendſtern — der Mond unſerer Daͤm¬ merung — ruhte freundlich auf dem Wege der Sonne und des Mondes und ſchickte ſeinen Troſt zwiſchen die Abweſenheit von beiden. — — »Wo »wirſt du jetzt ſeyn, mein Emanuel? Ruheſt du viel¬ »leicht vor dem Abendroth — oder ſchaueſt du in »das Sternenmeer — biſt du in der Entzuͤckung, »die wir ein Gebet nennen — oder . . . «
Jetzt blitzte in ihm auf einmal der Gedunke, ſein Emanuel ſey, da heute Nachts der Johannistag an¬ fing, vielleicht am Genuſſe des Abends verſchieden. . Er ſuchte ihn mit den Augen eifriger unter jedem Baume, in jedem tiefern Schatten, er blickte zu den Bergen auf, als koͤnnt' er ihn da ſehen, und zu den Sternen, als duͤrft' er ihn da ſuchen. — Er umging das Dorf, deſſen Ringmauer eine Fruchtſchnur von Kirſchbaͤumen war, die mit einer herabgeworfnen Milchſtraße von laͤngſt gefallnen Bluͤten den gruͤnen Umkreis verſilberten; und eilte uͤber die Ruinen der Haͤuſer, die die Kinder am Tage erbauet hatten, ge¬
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»Ach Engel! biſt du denn wieder vom Himmel her¬
unter?« ſagte der Blinde, ſonderbar irrend.
Wie war drauſſen alles ſo gut! die Abendglocke
des Dorfes rief uͤber die entſchlummerten Fluren
und eine entfernte Seele neigte ſich vielleicht nach
ihren verwehten gebrochenen Toͤnen heruͤber. Der
Abendwind rauſchte mit Gipfeln voll gruͤner Fruͤchte
darein. Der Abendſtern — der Mond unſerer Daͤm¬
merung — ruhte freundlich auf dem Wege der
Sonne und des Mondes und ſchickte ſeinen Troſt
zwiſchen die Abweſenheit von beiden. — — »Wo
»wirſt du jetzt ſeyn, mein Emanuel? Ruheſt du viel¬
»leicht vor dem Abendroth — oder ſchaueſt du in
»das Sternenmeer — biſt du in der Entzuͤckung,
»die wir ein Gebet nennen — oder . . . «
Jetzt blitzte in ihm auf einmal der Gedunke, ſein
Emanuel ſey, da heute Nachts der Johannistag an¬
fing, vielleicht am Genuſſe des Abends verſchieden. .
Er ſuchte ihn mit den Augen eifriger unter jedem
Baume, in jedem tiefern Schatten, er blickte zu den
Bergen auf, als koͤnnt' er ihn da ſehen, und zu den
Sternen, als duͤrft' er ihn da ſuchen. — Er umging
das Dorf, deſſen Ringmauer eine Fruchtſchnur von
Kirſchbaͤumen war, die mit einer herabgeworfnen
Milchſtraße von laͤngſt gefallnen Bluͤten den gruͤnen
Umkreis verſilberten; und eilte uͤber die Ruinen der
Haͤuſer, die die Kinder am Tage erbauet hatten, ge¬
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Erstes Heftlein. Berlin, 1795, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus01_1795/326>, abgerufen am 25.11.2024.
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